Mit Nackten Haenden
Ton kannte ich von ihm bisher nicht.
»Was ist hier vorgefallen?«
»Wann?«
»Mach mir doch nichts vor! Mit dir werde ich noch leicht fertig …«
»Willst du mich vielleicht schlagen? So wie du Emma vorhin geschlagen hast? Willst du uns beide verprügeln?«
»Was habt ihr getan?«
»Das hast du doch gesehen. Wir haben geschlafen.«
»Geschlafen habt ihr? Geschlafen? Zusammen? Halb nackt?«
Micol erstickte fast. Ich hörte, wie Gio aufstand, um ein Glas Wasser aus der Küche zu holen, in die ich mich geflüchtet hatte. Er hielt das Glas unter den Hahn. Als er sich umdrehte, stellte ich verblüfft fest, dass er lächelte.
»Geht es dir jetzt besser, Mama?«
»Nein, es geht mir gar nicht gut, und es wird auch nicht besser werden, wenn du mich weiterhin für dumm
verkaufst. Ich bin deine Mutter, du bist noch minderjährig. Ich kann dich für eine ganze Weile ins Internat stecken. Und was Emma angeht …«
»Frag mich einfach nach dem, was du wissen willst, und ich werde dir antworten.«
Stille. Von meinem Standort aus konnte ich verfolgen, was sich im Nebenzimmer abspielte, aber ich hatte nicht den Mut, wieder hineinzugehen. Ich sah Micol dasitzen, mit hervorstechenden Wangenknochen und ausgehöhltem Schlüsselbein. Sie starrte mit gebeugtem Nacken ins Leere, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Hände verschränkt, die Stirn auf beiden Daumen ruhend. Ihr Ehering wurde zum Teil von einem Diamanten verdeckt; das war ihr einziger Schmuck. Die Ohrfeige hatte zwar nicht besonders wehgetan, aber die beiden Ringe hatten meine Lippen erwischt. Nichts weiter als eine Schürfwunde, die dennoch brannte.
Mit einer abrupten Bewegung straffte sie die Schultern und ging zum Stuhl, auf den sie ihre Jacke gelegt hatte. Aus einer Tasche holte sie eine Packung Zigaretten hervor. Ihre Hände zitterten. Sie hatte Angst. Angst, dass Gio ihr etwas mitteilen würde, das sie auf keinen Fall zulassen, akzeptieren konnte. Angst, die Wahrheit zu erfahren. Gio stürmte auf sie zu, um ihr das Feuerzeug aus der Hand zu nehmen und die Zigarette anzuzünden, die sie zum Mund führte.
Keine zehn Minuten später traten wir alle aus dem Haus.
Zu mir sagte sie: »Dabei werden wir es nicht bewenden lassen«, was Gio, dieser ahnungslose Dummkopf,
mit einem Lächeln bestätigte. Dann öffnete sie die Beifahrertür, Gio stieg in ihr Auto, ich stieg in meines, und so trennten wir uns.
Warum zog Micol nicht mich, sondern Gio zur Rechenschaft, nachdem sie uns zusammen im Bett vorgefunden hatte? Sie war, mit Fug und Recht, außer sich vor Wut und auch eifersüchtig auf die Zärtlichkeit, die Gio für mich empfand, denn er hatte sich unwillkürlich zwischen uns gestellt. Aber was sollte sie, von der Ohrfeige abgesehen, in diesem Moment denn anderes tun? Wurde ihr vielleicht wieder bewusst, dass die Unschuld, die sie in Gios Fall hätte geltend machen können, zwischen uns beiden nie eine Rolle gespielt hatte? Oder dachte sie sogar, es handle sich um einen Racheakt? Glaubte sie etwa, die Liebe eines Kindes zu seiner Mutter ließe sich so einfach rauben wie die Liebe eines Mannes zu einer anderen Frau? Es gab zu viele Dinge, die sie vor Gio nicht aussprechen konnte. Das erklärte, warum sie nicht explodiert war.
Das Einzige, was ich zu meiner Entlastung vorbringen kann, ist Folgendes: Ab einem gewissen Zeitpunkt war es anständiger, ehrlicher, miteinander zu schlafen, als sich in die Augen zu sehen. Das eine hatte sich unwiderruflich aus dem anderen ergeben. So nahmen wir nach und nach die uns zugedachten Plätze ein, der lähmende Gefühlsüberschwang zu Beginn wich einer schrankenlosen Entdeckungslust, ohne Tabu, ohne Widerwillen gleich welcher Art. Auch wenn er hin und wieder verunsichert war, auch wenn er manche Niederlage hinnehmen
musste, ließ sich Gio unbeirrt auf das Spiel ein und warf sich immer wieder mit Feuereifer in die Schlacht. Es gibt kopflose Körper, herzlose Köpfe, herzlose Körper, kopflose und körperlose Herzen. Wir hatten Körper, Kopf und Herz.
Das Ende von Gios Kindheit zu besiegeln, hat mich einen hohen Preis gekostet, aber ich würde es jederzeit wieder tun.
E ine Anekdote, die ich erst später zu hören bekam, treibt wie ein Korken an der Oberfläche dieses Strudels, der uns schließlich alle mitgerissen hat. Selbst bei trübster Stimmung heitert mich diese Geschichte nach wie vor auf.
Unmittelbar nach dem Tod von Gios Großmutter hatten die Kinder in der trauerumflorten tenuta bald keine Lust mehr,
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