Mit Nackten Haenden
legte sie mir die Hand auf den Arm, und ich bemerkte, dass sie gleich hinfallen würde. Ich fing sie auf und brachte sie wieder ins Bett. Man konnte sie unmöglich allein lassen, und so blieb ich bei ihr. Sie fing wieder an zu weinen, ganz leise, streichelte mir das Gesicht und gab mir hilflose, verzagte kleine Küsse. Frierend drückte sie sich an mich, ihre Hände waren kalt, das Haar klebte ihr an der Stirn, ihr schöner Mund war geschwollen. Ich schloss sie in die Arme, wieder küsste sie mich, aber diesmal war der Kuss zweideutig, zügellos, leidenschaftlich, und ich ließ es einen Seufzer lang geschehen, bevor ich mich von ihr löste. Sie bat mich um ein Taschentuch. Als die Tränen getrocknet waren, kam sie wieder zu Atem. Sie lehnte sich in die Kissen zurück und stammelte:
»Du bist die Erste, die es erfährt, Emma. Ich erwarte ein Kind. Raphaël weiß nichts davon.«
Kurz darauf tauchte er überraschend auf. Stumm und blass betrachtete er uns von der Türschwelle aus, er wirkte unschlüssig, besorgt. Ich stand auf. Den Rest der Nacht verbrachte ich auf dem riesigen Sofa, das in der Küche thronte.
Am nächsten Morgen blieb ich lange auf einem Hocker vor der Waschmaschine sitzen und sah zu, wie die Bettlaken sich drehten, mit dem Eindruck, etwas unwiederbringlich verloren zu haben, zugleich hatte ich das Gefühl, dass alles wieder sauber war, auch wenn das Blatt sich gewendet hatte.
Am Abend von Giovannis Geburt, als Raphaël mir eröffnete, dass ich nur ein Wort zu sagen brauchte, ein einziges Wort … als er mir sagte, dass er es satt hatte, dass er erschöpft war, nicht dafür geschaffen, Micols mondäne Gelüste und das ewige Lamento der Schwiegereltern zu ertragen, deren kulturellen Vorlieben er genauso verabscheute wie deren politische Einstellung … hatte ich an diesem Abend, als ich mich so einsam fühlte, wie sich ein armer Mensch in Paris nur fühlen kann, als ich noch seinen Kuss schmeckte und den glühenden Abdruck seiner Haut auf meiner spürte, als ich darauf brannte, ihm mit Ja zu antworten - hatte ich da eine Dummheit begangen, war ich feige oder großmütig gewesen, als ich Nein sagte, es ist zu spät, du irrst dich jetzt, wie du dich schon früher einmal geirrt hast?
Raphaël war zu mir zurückgekommen wie Männer in eine weniger spektakuläre, aber bequemere Bleibe zurückkehren, und ich schickte ihn wieder zu ihr. Über eine Stunde später, nachdem ich vor seiner Haustür von ihm Abschied genommen hatte, kam ich zu Hause an. In den Taschen hatte ich nicht einmal genug Geld für ein Taxi.
A m Abend seines fünfzehnten Geburtstags führte ich Gio zum Wasser. Wir saßen, wie am Abend seiner Ankunft, auf der kleinen Brücke, und ich öffnete eine Flasche Champagner. Ich gab ihm auch seine beiden anderen Geschenke, ein schwarzes T-Shirt mit der weißen Aufschrift No family, no problem und eine Riesenpackung Seifenblasen. Das verwitterte Holz war rutschig. Wir klemmten uns die Pullis unter den Hintern. Er goss Champagner in die Gläser, dann stießen wir an. Als die Sonne unterging und eine Spur rosa Fischmilch hinterließ, holten wir die Pullis wieder hervor und zogen sie uns über. »Besser ein feuchter Arsch als eine kalte Brust«, sagte Gio. Die Seifenblasen landeten sanft auf der glatten Wasseroberfläche und lösten sich auf. Nach Einbruch der Dunkelheit konnten wir sie nicht mehr erkennen. Seite an Seite lauschten wir dem Wasser, bis Kälte und Feuchtigkeit uns vertrieben.
In dieser Nacht schlief ich nicht. Ich betrachtete ihn unablässig, bestaunte seine Haut, die von innen zu leuchten schien, seine seidigen Wimpern. Er atmete leicht und regelmäßig. Er schlief, während ich wachte.
Seine Sachen lagen auf dem Boden, bildeten hier und dort graue Häufchen. Er fühlte sich warm an, fast heiß. Im Schlaf zappelte er. Es waren keine hektischen Bewegungen, sondern winzige Angleichungen, ausgedehnte Seufzer, Flattermomente. An seinem Hals pulsierte eine Ader. Er schlief, wie Welpen schlafen, träumend und zitternd. Ich hingegen betete darum, noch dreißig, vierzig Mal Sommer und Winter, Herbst und Frühling bei vollem Bewusstsein zu erleben.
Hätte ich sonst den Mut, mich an das zu halten, was ich mir als Jugendliche geschworen hatte, und früher Schluss zu machen? Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Wenn, dann vielleicht im Herbst. Vielleicht wird mir die Kraft fehlen, einen letzten Winter zu bestehen.
In diesem Sommer war alles golden, Tausende Schwalben flogen in
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