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Mit Nackten Haenden

Titel: Mit Nackten Haenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simonetta Greggio
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Stimmen sind wie Körper. Aufreizend, erregend oder im Gegenteil beruhigend, tröstlich. Die von Mama, tief und dunkel, mit leicht italienisch anmutendem rollendem R. Die von Papa, anrührend, rau, schüchtern, zuweilen zögerlich, wenn er über ein ungewohntes Wort stolperte.
    Um Raphaëls Stimme zu hören, brauchte ich nur die Augen zu schließen. Manchmal war sein Tonfall so warm wie ein Streicheln. Manche Sätze ließen mich selbst in der Erinnerung erschauern. Man kann sich die Ohren nicht zuhalten, wenn die Stimmen aus dem Inneren kommen.
     
    Im Stall eingesperrt, käute ich das alles wieder, inmitten der Kühe, die mich ungerührt beobachteten. Ich hätte gern die Zeit gehabt. Alles war viel zu schnell gegangen. Es gab so vieles, das ich Gio nicht gesagt hatte.

    Annie und d’Aurevilly, die mich angerufen hatten, um zu hören, ob es mir »trotz allem« gut ging, antwortete ich, es ginge mir gar nicht so schlecht. Für jemanden, der mit gefesselten Händen und Füßen am Rand eines Abgrunds stand und ganz langsam hinabgestoßen wurde. Beide boten mir an, sie ein paar Tage zu besuchen, um mich auszuruhen und nachzudenken. Aber wovon sollte ich mich erholen? Und worüber nachdenken? Ich würde Gio nicht die Ehe antragen, um die Familienehre reinzuwaschen, und ich war auch kein seniler Professor, der den Reizen einer Lolita erlegen war. Wäre das übrigens der Fall gewesen, hätte man wohl milder über mich geurteilt.
    Der Abend zog herauf. Eine Kuh betrachtete mich mit großen ruhigen Augen; ein Speichelfaden troff ihr vom Maul. Sie duftete nach Gras und Milch; der Stall war ein Hort des Friedens. Draußen hörte ich den Novemberwind blasen. Das störte die Ruhe hier drinnen nicht.
    Dann hörte die Kuh auf zu kauen. Sie spitzte die Ohren, als sie einen Motor hörte, ein Bremsen auf Kies. Das Schlagen einer Autotür, eine männliche Stimme, gefolgt vom Lachen einer überdrehten Frau zerstörten meinen kurzlebigen Burgfrieden.

I ch weiß bis heute nicht, wie diese Dinge ruchbar werden. Ich weiß nicht, wer als Erster eine schlagzeilenträchtige Geschichte gewittert und die Fährte aufgenommen hat. Als es losging, hatte ich selbst erst wenige Tage zuvor erfahren, dass gegen mich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde.
    Mit einer hämischen Kurzmeldung in einer Tageszeitung fing es an; ich vermute, dass es an diesem Tag sonst nicht viel zu melden gab. Der Verfasser hielt es offenbar für geistreich, seinen Artikel »Lovière story« zu betiteln. Dann suchte mich ein Journalist auf. Als ich ihn rauswarf, schnüffelte er im Städtchen herum. Danach stieß ich eines Morgens, als ich aus dem Haus ging, auf einen Fotografen, der mich abfangen wollte. Das Ganze endete zwar mit einem zerstörten Fotoapparat, aber im lokalen Käseblättchen wurde mein Konterfei trotzdem abgedruckt. Ein grausames Passfoto. Ich habe nie erfahren, wie oder wo sie es sich beschaffen konnten.
    Von da an artete es völlig aus. Es verging kein Tag, ohne dass weitere Artikel wie Pestbeulen die Presse verseuchten. Die Assistentin eines Fernsehmoderators, der
mich - als Schattenprojektion unkenntlich gemacht - »dazu« befragen wollte, rief mehrmals an, sowie, etwas taktvoller, aber genauso wild entschlossen, ein Verleger, der mit mir einen Vertrag über die Veröffentlichung meines Erfahrungsberichts abschließen wollte, um »meiner Sicht« Ausdruck zu verleihen. Anschließend musste ich mir eine neue Telefonnummer zulegen, weil mir nachts namenlose Stimmen obszöne Angebote machten. Die Nummer ändern zu lassen, half nicht wirklich. Als dann auch noch Frauen anfingen, mich zu belästigen, und bedauerten, dass ich keine Kinder hatte, weil bloß Schlampen, wie ich eine war, nicht wussten, was es heißt, »wenn der eigene Sohn vergewaltigt wird«, warf ich das Handtuch und hörte nur noch die Nachrichten auf meinem Handy ab.
    Bis hierhin hatte sich mein Leben noch nicht grundlegend verändert. Mir ging es so wie einem Menschen, der eben erst angeschossen wurde, noch nichts spürt und einfach weitergeht.
    Wenn ich abends nach Hause kam, fütterte ich Gios Kater, der die Nächte vorzugsweise in meinem Bett verbrachte und meine Schlaflosigkeit mit einem praktisch durchgängigen Schnurren begleitete. Weil Nil in den Rosmarinbüschen hinter dem Haus wilderte, roch er immer sehr gut. Ich kratzte ihn sanft zwischen den Augen, dort, wo er seine doppelte Gelehrtenfalte hatte, die ihn wie einen Philosophen wirken ließ, und hinter den angekauten Ohren.

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