Mit Pflanzen verbunden
hausieren. Das Kräuterwissen der Erzgebirgler war weit über die Grenzen des Königreichs bekannt.
Die Kontinentalsperre Napoleons, die die Einfuhr britischer Textilien blockierte, begünstigte die Weber und Tuchmacher in Westsachsen. In Städten wie Crimmitschau und Chemnitz blühte auf einmal eine Textilindustrie auf, die zunehmend mechanisiert wurde. Überall wurden Fabriken gegründet. Neben Webern, Walkern, Färbemeistern und Spinnern bestand auch ein Bedarf an Leuten, die technische Fähigkeiten hatten und sich mit Metallen auskannten: Werkzeughersteller, Maschinenbauer und Eisengießer. So kam es, dass der Bergmann Paul mit seinen fünf Söhnen Morgenröte-Rautenkranz verließ und ins Unterland zog, wobei jeder Sohn in einer der verschiedenen Industriestädte Sachsens eine Eisengießerei gründete und damit reich wurde.
Meine Großmutter wurde als Tochter des Eisengießereibesitzers in der Textilstadt Crimmitschau geboren. Sie heiratete den Sohn eines wohlhabenden Textilfabrikanten – schon als Schulkinder wussten beide, dass sie füreinander bestimmt waren – und zog als junge Frau in die Familienvilla ihres Mannes. Ein schöner Garten umgab das Haus, ein Dresdener Gartenarchitekt hatte ihn 1903 angelegt, mit Obstbäumen, Beerenbüschen und seltenen Baumarten, mit einem alpinen Felsgarten und Blumenwiesen, auf denen im Sommer die Schmetterlinge tanzten und Hasen und Igel spielten, und mit versteckten Lauben und schlängelnden Kieswegen. Vor dem Küchenfenster standen zwei hohe erzgebirgische Fichten und in deren Nähe, immer in Sichtweite, pflanzte sie ihren Beifuß.
Die junge Frau wollte keinen Trubel, der Butler wurde gleich entlassen; das Dienstmädchen, eine diebische Elster, zeigte sie an, so dass es ins Gefängnis kam. Außer einer Kochfrau an Festtagen und einer Aushilfe am Wäschetag, am Montag, benötigte sie keine Hilfe. Sie wollte niemanden, der ihre Ruhe, ihre Einkehr störte. Zum Arzt ging sie nie, denn ebenso wie die Pilzkunde hatte sie von ihren erzgebirgischen Vorfahren auch Heilkräuterkenntnisse geerbt. Wenn jemand krank wurde, kochte sie Kamillentee oder einen anderen Kräutertee, und wenn es komplizierter war, kramte sie im „Bilz“ 4 nach. Sie und ihr Mann lebten ein eher asketisches Leben. Sie stand immer vor Sonnenaufgang auf, hielt Haushalt und Garten in Ordnung, versorgte Mann und Kinder. Am Sonntag war Ruhetag, da gab’s Kaffee und Kuchen.
Die Kaiserzeit verging, der Erste Weltkrieg, die Inflation, die Weimarer Republik. Die Hitlerzeit war schwierig: Der Großvater konnte nicht verstehen, wie alle, auch die Arbeiter im Betrieb, dem politischen Marktschreier nachliefen. Viele, die eben noch Kommunisten waren, wurden jetzt nationale Sozialisten. Bald wurde er gezwungen, die erfolgreichsten Vertreter der Firma in Berlin zu entlassen, da ihre Ahnenpässe Mängel aufwiesen. Als der Krieg kam, gab es für den Großvater nichts mehr zu tun. Die Fabrik wurde stillgelegt, die mechanischen Webstühle und Spinnmaschinen aus den Hallen geräumt und eine Waffenfabrik eingerichtet. Mit der „Kinderlandverschickung“, mit der man versuchte, wenigstens die Kinder vor dem Bombentod in den Städten zu bewahren, kamen zwei elfjährige Buben aus Bremen ins Haus. Irgendwann rückten die Amerikaner ein. Die Villa wurde für kurze Zeit von US-Offizieren „requiriert“ und wir mussten in der Fabrik unterkommen. Ich war damals drei Jahre alt, und mein Vater wurde schon seit fast einem Jahr an der italienischen Front vermisst. Die Schwester meiner Mutter, ein „Blitzmädchen“ (Funkergehilfin) an der Ostfront, war in russische Gefangenschaft geraten, konnte aber gerade noch entkommen und schlug sich in mehreren Wochen nächtlicher Fußmärsche durch die böhmischen Wälder bis nach Hause durch. Charles, ein amerikanischer Besatzungssoldat, der es – trotz des „Fraternisierungsverbotes“ – auf meine Tante abgesehen hatte, versuchte mir Football beizubringen. Es gab wenig zu essen. Ab und zu brachte Charles etwas mit.
Nach kurzer Zeit zogen die schlaksigen, Kaugummi kauenden Amis ab. Die Russen rückten ein. Der Großvater wurde ins SMAD-Hauptquartier (SMAD = Sowjetische Militär-Administation in Deutschland) bestellt. Warum, wurde nicht gesagt. Vielleicht würden sie ihn als ehemaligen Kapitalisten, als „Klassenfeind“, kurzerhand erschießen? Aber nein, der Kommandeur goss ihm ein Bierglas voll Wodka ein und erklärte, er solle die Fabrik wieder in Betrieb nehmen. Die SMAD würde
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