Mit Pflanzen verbunden
Wolle liefern; die von amerikanischen Granaten zerstörte Färberei der Fabrik werde unverzüglich wieder aufgebaut werden.
Inzwischen war eine ganze Familie sudetendeutscher Flüchtlinge ins Haus gezogen. Halb verhungert und mit nichts als den Kleider auf ihrem Leib waren sie angekommen. Auch wir hatten Hunger. Die Großmutter streckte das Wenige mit Brennnesseln und anderen Wildkräutern. Der Großvater und der Sudetendeutsche gruben die Wiese um und machten einen Gemüsegarten daraus. Die Gartenlauben, in denen man in besseren Zeiten Kaffee getrunken oder Plauderstündchen gehalten hatte, wurden zu Hühner- und Hasenställen umfunktioniert.
Für uns Kinder, für meinen kleinen Vetter und mich, strickte die Oma sämtliche Höschen und Strümpfe. Sie lehrte uns „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein“ beten, und wenn wir krank waren, kochte sie ihren berühmten Kamillentee. Ende 1947 wurde der Vater aus der Kriegsgefangenschaft in Ägypten entlassen. Es war nicht ratsam für ehemalige Offiziere, in die sowjetische Besatzungszone zurückzukehren, wenn sie nicht bereit waren, die „Internationale“ mitzupfeifen. Also versteckten wir, meine Mutter und ich, uns in einem Güterwagen und flohen bei Nacht und Nebel mit der Hilfe einer Frau, die die Schlupfwege kannte, über die Zonengrenze.
Die Fabrik florierte während der sowjetischen Besatzungszeit. Als dann die deutschen Kommunisten offiziell in der DDR an die Macht kamen, wurde es schwieriger. Man erinnerte sich an den großen Crimmitschauer Textilarbeiterstreik 1903–04; der Onkel des Großvaters war damals der Vorsitzende der Crimmitschauer Industriellen gewesen. Diese Fabrik, sagten die Genossen, dürfe nicht weiter bestehen. Kredite wurden über Nacht gesperrt und ein Bankrott angeordnet – obwohl die Fabrik voll ausgelastet war und sämtliche Mantelstoffe der DDR-Reichsbahn und der Straßenbahner dort gewoben wurden und trotz Protest der Arbeiter, die sogar ein Gesuch an den Staatsratvorsitzenden Genossen Ulbricht schickten. Das Verfahren zog sich fast zehn Jahre hin, dann war die Enteignung amtlich. Da die Fabrik keine GmbH war, sondern eine freie Handelsgesellschaft, erstreckte sich die Enteignung nicht nur auf die Firma, sondern auf das Vermögen, inklusive Haus und Grundstück. Ein SED-Bonze kaufte die Villa für zehntausend Ostmark, das waren umgerechnet 500 Dollar. Da man nach DDR-Gesetz niemand auf die Straße setzen durfte, konnten meine Großeltern zwei Zimmer samt Küche zur Miete bewohnen und ihr Leben mit der Minimalrente bestreiten. Die Großmutter der Frau des Bonzen war ebenjene diebische Elster gewesen, die durch Veranlassung der Großmutter zwei Jahre hinter Gittern verbringen musste. Schicksalskreise!
Der SED-Funktionär war brutal. Er sägte all die seltenen Bäume um – auch den Hausbaum, eine Blutbuche, die mein Urgroßvater gepflanzt hatte –, entfernte Ziersträucher, planierte und zementierte. Als er auch die zwei Fichten vor dem Küchenfenster fällte und die Beifußstaude herausriss, wurde die Großmutter krank. Kein Kraut half ihr mehr und sie starb. Ohne ihre pflanzlichen Verbündeten konnte sie nicht leben. 5 Sicherlich waren es Bäume, in denen die Geister wohnten, die mit ihr und der Familie verbunden waren. Boträd oder Varträd nannten die Schweden diese Bäume, wo der Tomtegubbe, der Hausgeist, lebt und unter denen oft Brot, Bier oder andere Speisen geopfert werden. Es ist, nebenbei bemerkt, oft zu erleben, dass neue Hausbesitzer die Bäume fällen oder Hölzer roden – als ahnten sie, dass diese Wesen noch mit den Vorbesitzern verbunden sind und dass der Besitz dadurch nicht ganz ihr eigener ist.
Der Großvater wurde 97 und er lebte die letzten zehn Jahre, wie ein Yogi in seiner Höhle, in einer Garderobe, da diese sich leichter heizen ließ.
Der Beifuß ließ mich nicht mehr los. Unmittelbar verband er mich mit Heimat, Frühkindheit und der Großmutter, die für mich damals die Frau Holle selber war. Der Beifuß war es dann auch, der mir den Weg zum Verständnis der steinzeitlichen Vorfahren ebnete. Das eiszeitliche Europa, wo fellbekleidete Jäger und Sammler in Tipi-ähnlichen Kegelzelten lebten, war eine mit Beifuß bewachsene Steppe. Sicherlich haben die Steinzeiteuropäer, wie die Prärieindianer und wie die Stammesvölker Sibiriens, Ostasiens und im Himalaja, mit Beifuß 6 geräuchert, oder die Frauen haben ihn als Auslöser der Monatsblutung verwendet. Bei den
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