Mit Pflanzen verbunden
lernen. Ein solches Kennenlernen gehört ja schließlich mit zur Aufgabe eines Ethnobota-nikers. Aber ich unterließ es. Vielleicht wirkten in mir unbewusst die Warnungen meines Vaters nach. Jedes Mal, wenn ich als kleiner Junge irgendeine unbekannte Beere probierte, warnte er vor der Tollkirsche. Ich glaube aber, dass er selbst nicht wusste, wie die Teufelsbeere aussah.
Einige Jahre später jedoch hatte ich Gelegenheit, das berüchtigte Nachtschattengewächs besser kennen zu lernen. Es war im Spätsommer, ich hielt gerade einen Kräuterkurs in Langenbruck im Baselbiet. Hier, auf den Kalksteinfelsen des Jura, wachsen Buchenmischwälder mit vielen interessanten Pflanzen: Zahnwurz, Lasarkraut, Pyrenäenstorchschnabel und so weiter. Eine junge Hex‘, die als Kursteilnehmerin mit dabei war, erzählte ganz aufgeregt, sie habe oben auf dem Berg eine stattliche Tollkirschstaude gefunden. In meinen freien Stunden stieg ich die Höhe hinauf, um zu sehen, ob es sich lohnen würde, später gemeinsam mit der Gruppe die Zauberpflanze zu besuchen.
Problemlos fand ich sie – ein Prachtexemplar voller reifer schwarzer „Kirschen“. Um mich meditativ in sie zu vertiefen, setzte ich mich unmittelbar vor ihr auf den Erdboden. Damit die ätherischen Energien zwischen ihr und mir ungehindert fließen konnten, zog ich Schuhe und Hemd aus und legte jedes Metall (Taschenmesser, Schlüssel) beiseite. Es ist universaler Brauch, egal ob in Afrika, Amerika oder Eurasien, dass man sich einer Pflanze, mit der man sich verbinden will, ohne Metall nähert, ausgenommen ist Kupfer und Silber. Metall, insbesondere Eisen, vertreibt den Geist der Pflanze. Ich zentrierte mich, begrüßte sie mit einem Tabakgeschenk – es hätte auch ein Kupferpfennig oder ein Schluck Bier sein können – und betrachtete sie mit voller Aufmerksamkeit. Ich musterte sie liebevoll, betastete die glatte Haut der Stängel und die weichen Blätter mit den Fingerspitzen, nahm schnuppernd ihren nicht ganz angenehmen Geruch auf, legte ein fingernagelgroßes Blattstückchen auf die Zunge und ließ den süßlich bitteren Geschmack auf mich wirken. Allmählich nahmen meine Sinne immer feinere Nuancen wahr. Die Staude schien zu leuchten, zu vibrieren – ich fing an, sie auf eine Art und Weise zu sehen, wie es keine Kamera je würde aufzeichnen können. Die schwarzen Früchte kamen mir auf einmal immer mehr wie Augen vor, die mich ihrerseits beobachteten. Zuletzt schloss ich meine Augen und versuchte mich mit meinen ätherischen Sinnen in die Pflanze „hineinzuspüren“. Es ist so: Je tiefer die Pflanzenmeditation, umso mehr verliert man das Zeitgefühl und umso mehr steigert man sich in einen Zustand hinein, der nur als wonnevoll beschrieben werden kann. Das Bewusstsein nähert sich wellenmäßig dem Pflanzenwesen; die eigene Seele flutet rhythmisch in die Sphäre der Pflanze hinein. Ehe man sich jedoch vollkommen in ihr verliert, nimmt die Intensität ab. Es muss ein natürliches Gesetz sein, etwa so, wie der Flut die Ebbe folgt. Wäre das nicht so, würde man der Welt entschweben.
Als ich wieder auf der normalen alltäglichen Bewusstseins-ebene angelangt war, verabschiedete ich mich geistig von ihr und stand auf. Erst da bemerkte ich, dass sich ein Tier, ein dunkelbrauner, fast schwarzer Baummarder, neben mir aufhielt. Als ich ihm den Kopf zuwandte, spannten sich seine Muskeln zum Sprung, um zu fliehen. Aber dann spürte er, dass ich mich – obwohl ich mich bewegt hatte – noch immer in einem Alphawellenzustand 5 befand. Augenblicklich entspannte er sich wieder. Die tiefschwarzen Augen, mit denen er mich ansah, glichen genau den dunklen Tollkirschbeeren. Ich erkannte: Es war der Tollkirschgeist, der den Marder als Medium benutzte, um sich diesen Menschen, der da so tief in seine Sphäre eingedrungen war, von außen anzuschauen. So etwas ist möglich. Die Geistseelen der Pflanzen sind ja nicht so stark in ihrer Leiblichkeit inkarniert, nicht so vollständig „eingefleischt“, wie die Seelen der Menschen oder der Tiere. Pflanzenseelen umweben ihre stofflichen Leiber, sie können körperlos reisen, können mühelos durch Mauern und Gegenstände schweben, können sich tierischer Körper bemächtigen und mittels deren Sinne die Umgebung wahrnehmen. Mithilfe des Marders hat mich die Tollkirsche gerochen und mich mit seinen schwarzen Augen angeschaut. Irgendwie passte das hübsche, neugierige, tag- und nachtaktive Raubtier zum Wesen der Belladonna.
Der Marder lief nun
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