Mit Sherlock Holmes durch Raum und Zeit 1
genommen hatte. Einmal blickte er mir scharf über die Schulter, als ob er draußen etwas fixierte. Da wandte ich mich um. Ich sah, daß das Fenster geschlossen, die Jalousie jedoch nicht heruntergelassen war. Ich konnte die Büsche draußen auf dem Rasen noch erkennen, und es schien mir eine Sekunde, als ob sich darin etwas bewegte. Ob Mensch oder Tier, hätte ich nicht einmal sagen können. Auf meine Frage, wonach er Ausschau halte, antwortete George mit der gleichen Beobachtung, wie ich sie gemacht hatte. Mehr weiß ich nicht zu sagen.«
»Haben Sie nicht draußen nachgesehen?«
»Nein, das Ganze erschien mir zu belanglos.«
»Sie haben demnach Ihre Verwandten ohne unangenehme Vorahnung verlassen?«
»Ohne die geringste.«
»Noch ist mir nicht klar, wieso die Nachricht heute morgen schon so zeitig zu Ihnen drang?«
»Ich bin Frühaufsteher und mache meist vor dem Frühstück einen Spaziergang. Heute war ich eben aufgebrochen, als mich der Wagen des Landarztes überholte. Er sagte mir, daß die alte Mrs. Porter einen Bauernjungen mit einer dringenden Botschaft zu ihm geschickt habe. Ich sprang in seine Kutsche und fuhr mit ihm weiter. Beim Haus meiner Verwandten angelangt, begaben wir uns sofort zu dem verhängnisvollen Zimmer. Kerzen und Feuer müssen Stunden zuvor schon erloschen sein. Sie haben weiter so im Dunkeln gesessen, bis zum Anbruch der Dämmerung. Der Arzt erklärte, meine Schwester sei mindestens schon seit sechs Stunden tot. Von einer Gewalttat sah man nichts. Brenda hing einfach über der Armlehne mit diesem grausigen Ausdruck in ihrem Gesicht. George und Owen grölten alberne Liedfetzen. Und wie zwei große Affen plapperten sie zwischenhinein unverständliches Zeug. Es war schauderhaft anzusehen und zu hören. Ich konnte es nicht aushalten. Und der Doktor wurde weiß wie ein Handtuch. Tatsächlich fiel er in einen Sessel, als habe eine Ohnmacht ihn überwältigt. So hätten wir ihn beinahe auch noch auf dem Buckel gehabt.«
»Merkwürdig – wirklich sehr merkwürdig!« Mehr sagte Holmes nicht, als er aufstand und seinen Hut ergriff. »Ich glaube, wir gehen lieber jetzt nach Tredannick Wartha«, so murmelte er dann vor sich hin. Und unterwegs war seine einzige Bemerkung: »Also, ein Fall, so rätselhaft wie dieser, ist mir noch selten unterlaufen.«
An diesem ersten Morgen zeitigte unser Vorgehen noch spärliche Ergebnisse. Doch gab es gleich zu Beginn einen Umstand, der in mir einen höchst unbehaglichen Eindruck hinterließ. Zu dem Anwesen, wo sich die Tragödie ereignet hatte, führte ein schmales, gewundenes Gäßchen. Wir schritten gerade im Gänsemarsch darin entlang, als uns ein großer Wagen entgegenratterte. Enger noch drückten wir uns auf die Seite, um ihn vorbeizulassen. Dabei streifte mich durch eines der geschlossenen Fenster der stiere Blick eines gräßlich verzerrten, zähnefletschenden Gesichts.
»Meine Brüder«, rief Mortimer Tregennis, kreidebleich bis in die Lippen. »Da bringt man sie nach Heiston.«
Voller Entsetzen schauten wir dem schwarzen Gefährt nach, wie es über den Weg holperte. Dann lenkten wir unsere Schritte auf das unselige Haus zu, wo ihr Geschick sie ereilt hatte. Es war eine große Villa mit einem hübschen Garten, welcher trotz der noch frischkalten Luft schon mit Frühlingsblumen reich gesegnet war. An diesem Fenster sollte ja – laut Mortimer Tregennis – eine widerwärtige Erscheinung aufgetaucht sein, die allein durch den Schrecken den Geist der beiden Männer vollständig zerrüttet hatte. Langsam und nachdenklich wanderte Holmes zwischen den Blumentöpfen umher, sodann über den Pfad, ehe wir in die Säulenhalle eintraten. So verloren war er in Gedanken, wie mir noch erinnerlich ist, daß er über einen großen Wasserbehälter stolperte, dessen Inhalt sich über unsere Füße und den Weg ergoß. Drinnen im Haus wurden wir von Mrs. Porter, der ältlichen Haushälterin, empfangen. Sie stammte aus der Gegend und sorgte unter Mithilfe eines jungen Mädchens für die Bedürfnisse der Familie. Bereitwillig antwortete sie auf alle Fragen, die Holmes an sie stellte. Nein, sie habe gar nichts gehört während der Nacht. Die Herrschaften seien alle ausgezeichneter Laune gewesen. Sie, Mrs. Porter, habe sie nie in besserer und fröhlicherer Stimmung gekannt, als während der letzten Tage.
»Wie ich nun heute früh ins Wohnzimmer gehen will, um sauber zu machen«, erzählte sie, »da hab’ ich die schreckliche Gesellschaft um den Tisch sitzen sehen,
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