Mit sich selbst befreundet sein
schwierigste, nämlich das Hungergefühl durchzustehen, das zunächst noch spürbar ist, und die seelischen wie geistigen Auswirkungen hinzunehmen, die die körperliche Erfahrung mit sich bringt: Dies ist die Hürde, die zu überwinden wirklich schwer fällt. Was körperlich dabei geschieht, ist vor allem eine Entschlackung des Darms von Stoffen, die bei der Verdauung nicht verwertet worden sind und sich seit längerer Zeit, auch seit Jahren und Jahrzehnten, an den Darmwänden festgesetzt haben, eine Quelle von Übersäuerung und Vergiftung. Diese Stoffwechselreste, Schadstoffe, Giftstoffe, längst zur stummen Belastung geworden, stößt der Körper nun ab; eine Reduktion auf das Wesentliche.
Zu den seelischen Auswirkungen gehören die unterschiedlichsten Gefühle, ihre Widersprüche und Kämpfe, die nun stärker wahrgenommen werden, bevor sie zur Ruhe kommen und in einem anhaltenden Wohlgefühl aufgehen. Dann wird alles leicht, der Körper, das Fühlen, das Denken. Geistig wird nach der anfänglichen Benommenheit ein Denken freigesetzt, das klarerals jemals erscheint, mit weiterem Blick als zuvor auf das gelebte und zu lebende Leben; Zusammenhänge werden sichtbar und »machen Sinn«, nachdem in den ersten Tagen eine umfassende, beängstigende Sinnlosigkeit vor Augen stand. Zumindest ein Buch übers Fasten kann als Begleiter hilfreich sein, um die Phänomene dieser Zeit besser zu verstehen, auch um wertvolle Hinweise zu bekommen, wie angefangen, und mehr noch, wie wieder aufgehört werden kann. Denn wie so oft im Leben werden auch hier die Schwierigkeiten des Anfangens überboten von denen des Aufhörens. Und wenn das Fasten endlich »gebrochen« ist und das Selbst in »Aufbautagen« vorsichtig dazu übergeht, wieder Nahrung zu sich zu nehmen, geschieht dies mit größerer Bewusstheit als je zuvor, respektvoller und sensibler. Das Essen wird zum Fest, bevor es erneut von der Gewohnheit eingeholt wird. Was lange bleibt, sind die Gefühle von Frische und Stärke, die das Selbst empfindet, »rosig und vital«.
Zu einer solchen Übung in der Lage zu sein, trägt dem Selbst, von der Achtung anderer abgesehen, die Achtung seiner selbst ein. Es erfährt sich selbst durch alle Mühen hindurch als verlässlich und kann davon ausgehend sich vieles zutrauen. Die Fähigkeit zur Selbstmächtigkeit gewährt ihm Spielraum auch in anderen Fragen und ermöglicht ihm, Werte auch dann zu realisieren, wenn Selbstüberwindung dafür die Voraussetzung ist. Zur Diätetik als Lebensweise gehört zudem das erotische Leben, und so ist eine mögliche Askese auch die Entsagung in sexueller Hinsicht. Aufgrund christlicher Prägung schien sie lange Zeit sogar ausschließlich hieraus zu bestehen; unabhängig von dieser historischen Festlegung kann sie zu einer neuerlichen Einübung in die Selbstmächtigkeit werden. Die Anfangszeit erweist sich freilich als ebenso schwierig wie beim Verzicht auf Nahrung, denn das Begehren beginnt in Körper und Seele zu toben und verweigert dem Geist, überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen zu können; dann wieder überfällt bleierne Müdigkeit das Selbst, bevor von neuem eine wilde Unruhe einsetzt. In seinen Bekenntnissen hat Augustinus im 4./5. Jahrhundert n. Chr. die Erfahrung lebhaft beschrieben; christlich daran ist die Begründung und Ausrichtung, nicht aber die Phänomenologie der Entsagung, die auch ihre neurobiologische Seite hat: Geschlechtshormone projizieren verführerische Vorstellungen des Begehrens an die Wand des Bewusstseins und unterstreichen ihren Machtanspruch durch einen bezwingenden Eindruck von Unwiderstehlichkeit und Unverzichtbarkeit. Das denkende Selbst beginnt bereits zu glauben, dass ein Leben ohne sexuellen Vollzug unmöglich, schon gar nicht lebenswert, in keinem Fall bejahenswert sei. Dann aber findet es plötzlich Gefallen an dem Machtgefühl, das sich immer triumphaler einstellt: kein Sklave des eigenen Begehrens mehr zu sein, vielmehr aus dessen unabweisbar scheinender Notwendigkeit eine Möglichkeit unter anderen machen zu können; Begehren als Option, nicht als Norm. Die »Vergeistigung«, die damit einhergeht, muss keineswegs einen Verlust an Sinnlichkeit zur Folge haben, sondern kann ganz im Gegenteil ihrer Verstärkung und Verfeinerung förderlich sein.
Jede Fähigkeit zur Entsagung festigt den Grund der Selbstmächtigkeit. Sie ist ein Moment der Befreiung für das Selbst: nichts erwarten zu müssen, folglich auch nicht enttäuscht werden zu können. Ein Moment der
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