Mit sich selbst befreundet sein
Aufmerksamkeit auf Myriaden winziger Lebewesen, die den Körper innerlich und äußerlich besiedeln, hilfreich oder schädlich, und die zur Integrität des Selbst gehören oder sie bedrohen. Auf der Haut des Selbst leben so viele Mikroben wie Menschen auf dem Planeten, und sie nehmen jederzeit Einfluss auf die Befindlichkeit des Selbst. Selbst die Zähne bilden ein eigenes Habitat, eine »Biosphäre«, und in ungleich höherem Maße gilt dies für denDarm. Vom Wir anstelle nur vom »Ich« zu sprechen, erscheint schon aus diesem Grund angemessen.
Wenn die Selbstvorsorge nicht mehr ausreicht, bedarf das krank gewordene Selbst zunächst einer Selbstmedikation , gemäß »Handbuch« oder auch »freihändig«, angeleitet vom inneren Arzt , dem Gespür, das nicht nur eine Auffassung davon vermittelt, was fehlt, sondern auch zur Aufnahme bestimmter Produkte und Stoffe hinzieht, zu einer Art von Pharmakophagie , wie sie schon im Tierreich zu beobachten ist, um genau das zu sich zu nehmen, was der Körper nun braucht und was heilsame Wirkung hat. Das mag medizinisch nicht durchweg abgestützt sein, ein zufällig zusammengewürfeltes Konglomerat von Mitteln und Maßnahmen, das dennoch zur Lebensnotwendigkeit wird, da das Selbst nicht pausenlos und in jeder Situation ärztliche und therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen kann. So legt es sich im Laufe der Zeit »Hausmittel« zurecht, beruhend auf alter Gewohnheit, immer neuer Erfahrung, medialer Information, eigener Überlegung, familiärer Überlieferung: Von der Heilsamkeit einer Hühnersuppe angesichts von Erkältung war Oma überzeugt. Die Mutter wusste, dass jede Art von Wärme heilt; so ist das Überleben der antiquierten Wärmflasche gesichert. Der Vater schwor auf das eintägige Ausschwitzen jeglicher Krankheit im Bett. Einer zufälligen Begegnung verdankt sich die Kenntnis des Teebaumöls, das Erkältungsviren schon beim ersten Kratzen im Hals mit einer Mundspülung entfernt. Der Apotheker hat den Kunden auf Echinacea (Extrakt von Sonnenhut) hingewiesen, dessen Unwirksamkeit wissenschaftlich als erwiesen gilt, während es in der Praxis spürbar das Immunsystem stärkt. Ein Freund wiederum kuriert Krankheiten im Frühstadium mit kräftigen Gaben von Vitamin C, und dem überzeugenden Beispiel kann das Selbst sich schwerlich entziehen. Entscheidend für die Wirkung einfacher Hausrezepte ist der Glaube an sie, der ungeahnte Kräfte mobilisiert, immer nach Maßgabe der Plausibilität, dessen also, was am meisten »einleuchtet« und überzeugt, am besten mitGründen, nach allem Für und Wider, im Zweifelsfall nach ärztlicher Konsultation, im Regelfall auch ohne. Kein Mittel kann ohne Glaube wirken, umgekehrt wirkt der Glaube jedoch des Öfteren auch ohne Mittel; den Beweis dafür, gut belegt, erbringen »Placebos«, Ersatzstoffe, die bei Blindversuchen oft dieselbe Wirkung wie die jeweiligen Wirkstoffe erzielen.
Die Bestückung mancher Hausapotheke erscheint abenteuerlich und stellt doch die Basis einer Wahrnehmung der Sorge für sich selbst dar. Nicht immer geht es beim Kurieren freilich um Mittel und Medikamente, sondern beispielsweise um die Heilsamkeit und Seligkeit des Schlafes , der den Kräften des Körpers und des Gehirns die Muße gönnt, in aller Stille zu arbeiten und nicht noch äußere Eindrücke verarbeiten zu müssen. Vor allem die Anzeichen »knochentiefer Müdigkeit« legen dem Selbst nahe, seinen Körper nicht mit allen chemischen und pharmazeutischen Mitteln noch dazu zu nötigen, weiterhin zu »funktionieren«, denn das hieße, ihn in die völlige Erschöpfung zu treiben. Statt gegen die Erkrankung ankämpfen zu wollen und dabei alle Kräfte zu verausgaben, erscheint es sinnvoller, sich ihr zu fügen und mit ihr bis auf weiteres zu leben. Endlich kann das Selbst alle Sorge sein lassen und nach Herzenslust regredieren, der Müdigkeit nachgeben, sich hinlegen, denn die Kräfte, die allein schon die aufrechte Haltung kostet, erst recht jede geistige Konzentration, braucht der Körper nun für sich, für die innere Regeneration, für die Abwehr einer Infektion. Er verlangt selbst nach einer Reduktion der Nahrungsaufnahme, um die beträchtlichen Kräfte, die die Verdauung für sich beansprucht, nun dem Heilungsprozess zukommen zu lassen. Von selbst stellt das Selbst das Denken ein, das zu viel Energie abzieht und ohnehin schmerzt; stattdessen kommt es nun darauf an, sehr viel zu trinken, um die Selbstreinigung des Körpers zu unterstützen. Selbst die Sinne
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