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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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geschieht in der Gestaltung des Ausdrucks, je nachdem wie die Atmung modifiziert und der Körper bewegt wird, welche Haltung der Kopf einnimmt, wie die Lippen geöffnet, Augenlider und Augenbrauen gehoben, Augäpfel gerollt, Finger gespreizt, die Hände zum Körper und von ihm weggeführt werden. Anregungen zur bewussten Arbeit am Ausdruck in Mimik, Gestik, Bewegung bieten Schauplätze kunstvoller Gefühle wie Film, Theater, Oper. Auf andere Weise werden in Musik und Literatur, in Tönen, Worten, Sätzen, Erzählungen Gefühle geäußert und in der Äußerung geformt, zurückgehalten oder freigesetzt; die Formgebung wirkt wiederum auf die Empfindung zurück. In hohem Maße ist die Äußerung von Gefühlen und die Rückwirkung auf ihre Empfindung abhängig von der Sprache, die dafür zur Verfügung steht. Die gesamte Kulturgeschichte hindurch ist eine Arbeit der Erziehung an den Gefühlen geleistet worden, indem ihr Ausdruck gestaltet wurde, und diese Arbeit ist in der Gegenwart keineswegs abgeschlossen. Ihre Auswirkungen zeigen sich im Gesicht eines jeden.
Gestaltung des Gesichts: Von der plastischen Kraft des Lebens
    Wie ein Bildhauer gestaltet das Selbst sich und sein Leben: So stellte etwa Epiktet ( Diatriben I, 15) sich die Lebenskunst vor. Aber zur Kunst des Lebens gehört ebenso die Umkehrung dieser Beziehung: Der »Künstler« wechselt die Seite, und nun gestaltet »das Leben« ganz so wie ein Bildhauer das Selbst. Nur so ist zu erklären, dass manch ein Selbst wie aus Stein gemeißelt einem anderen vor Augen steht. Wer hat an ihm gearbeitet? Offenkundigverfügt »das Leben« selbst über plastische Kraft, und das Werkzeug, mit dem es arbeitet, sind die Erfahrungen, Begegnungen, Sehnsüchte, Enttäuschungen, Schmerzen, Lüste, die es vermittelt. So vermag es die Linien der Lippen zu schürzen zu einem vollen Mund oder zu begradigen zu einem feinen Strich; es biegt die Mundwinkel lächelnd nach oben oder verdrießlich nach unten; es hebt die Augenbrauen staunend hoch und lässt die Augenlider müde niedersinken; Fältchen und Falten zieht es über die Stirn und gräbt sie im Laufe der Zeit ein, je nach Frequenz des Gebrauchs der darunter verborgenen Muskeln. Unweigerlich wirkt der Gebrauch über längere Zeit gestaltend auf die Erscheinungsform des Menschen ein, auf sein Gesicht wie auf seine Haltung, seine Bewegung und Gestik. Alles Leben zeichnet sich ab im Gesicht, auch die Abwesenheit von Leben. Angesichts dessen könnte ein Problem darin zu sehen sein, wenn das Gesicht zu glatt bliebe, zu glatt für ein erfülltes Leben, das eher die Falten liebt: In ihnen zeichnet sich die reiche Landschaft des Lebens ab.
    In höherem Maße als ein Name ist das Gesicht Eigentum des Selbst, und doch wird es kaum von ihm allein bewohnt. So individuell seine Linienführungen auch sein mögen, so sehr sind sie doch »kulturell konstruiert«, durchdrungen von der Kultur einer Region und einer Epoche: Der bloße Blick auf die Mimik erlaubt bisweilen, das Gesicht einem Raum und einer Zeit zuzuordnen. Es spricht, auch wenn aus dem Mund kein Laut kommt, und es erhält Antwort, auch wenn nichts gesagt wird. Emmanuel Lévinas hatte gute Gründe dafür, eine ganze Ethik auf das Antlitz zu gründen, denn alle Ethik im Umgang mit anderen bleibt abstrakt, wenn deren Gesicht nicht sichtbar ist. Eine Hermeneutik des Gesichts versteht die Zeichen zu deuten, die Gesichtszüge kulturell und individuell zu interpretieren, aus denen Traurigkeit und Fröhlichkeit, Niedergeschlagenheit und Wachheit sprechen. Härten, Schmerzen, Enttäuschungen, verbotene Wünsche und unversöhnlicher Hass graben sich tief darin ein. Nachaußen hin fügt das Gesicht die divergenten Aspekte des Selbst zu einer Einheit zusammen, die es im Inneren so vielleicht nicht gibt, und hinter manch einem Gesicht kocht ein verborgener Vulkan. Körperlich wie seelisch handelt es sich um den Teil des Selbst, der anderen nackt dargeboten wird. Das Gesicht schützt sich, indem es zur Maske wird, die kaum zu durchschauen ist, zuweilen auch nicht für das Selbst, das sich einem Fremden gegenübersieht, wenn es sich im Spiegel erblickt. So beginnt das Selbst mit zwei Gesichtern zu leben: einem »wahren«, das nur wenige zu sehen bekommen, und einem »aufgesetzten«, das gelegentlich verloren werden kann, sodass ein »Gesichtsverlust« die Folge ist.
    Die Gesichtszüge zu gestalten, weniger auf direkte als auf indirekte Weise: darin besteht die Kunst des Gesichts . Eine direkte

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