Mit sich selbst befreundet sein
ein Leben nur im Schmerz wäre ohne zeitweilige Erholung durch die Erfahrung von Lust kaum lebbar. Lust und Schmerz erscheinen als Bestandteil der umfassenden Polarität, die Gracián so beschreibt: »Das Wechselspiel der Gegensätze verschönert, ja erhält die Welt« ( Handorakel , Aphorismus 108). Die eigentliche Herausforderung des Lebens ist dabei nicht so sehr die Lust,deren Genuss auch ohne Kunst keine allzu große Mühe bereitet, sondern der Schmerz, den sich keiner wünscht und dessen Bewältigung sich nicht von selbst versteht. Niemand muss ihn suchen, ganz von selbst stellt er sich gelegentlich ein: Akut oder chronisch kann er das Selbst überfallen, auf eine auslösende Krankheit kann er verweisen oder auch nicht, lokalisierbar kann er sein oder aber diffus, heilbar kann er sein oder aber jede Heilung verweigern. Er kann körperlich, seelisch oder – was häufig geschieht und selten ernst genommen wird – geistig auftreten, womöglich »ohne Befund«: aufgrund eines Bewusstseins von Abgründen, die nicht überbrückt werden können; aufgrund einer Erfahrung von Sinnlosigkeit, einer profunden Einsicht in Tragik, bezogen auf eine Situation oder das gesamte Leben und die Welt selbst; das eigentliche Leiden. Vom Körper aus beeinflusst der Schmerz Seele und Geist, von Seele und Geist aus kann er sich »somatisieren«. Die Vielfalt seiner Erscheinungsformen und seine Widerständigkeit gegen »Behandlung« legen den Eindruck nahe, dass ihm mehr Bedeutsamkeit zukommt, als ihm zugetraut wird.
Grundsätzlich, so lässt sich sagen, ist der Schmerz kein Problem des Körpers, sondern der Seele, in der er gefühlt, und des Geistes, in dem er repräsentiert wird. Der Körper könnte auf eine »Funktionsstörung«, eine drohende oder wirkliche Schädigung, die der Schmerz anzeigt, einfach reagieren, er bedürfte dafür keiner komplexen Steuerung – ebenso wenig wäre er allerdings zu einer weiträumigen Umsicht und vorauseilenden Vorsicht in der Lage: Dazu bedarf es des Gefühls und der Vorstellung von Schmerz, sodass das Selbst schließlich »weiß«, dass es »Schmerzen hat« oder haben wird. Wenn der Schmerz kommt, pocht er im Fühlen und vor allem im Denken des Selbst; aber auf seelischer und geistiger Ebene liegt auch das Potenzial für das Können und die Gestaltung im Umgang mit Schmerz. Grundlegend dafür ist die innere Einstellung , die zum Gegenstand der seelischen und geistigen Sorge wird, nicht jedoch erst inmitten derErfahrung von Schmerz, sondern bereits vorweg, denn in ihrer unmittelbaren, tyrannischen Präsenz unterbindet die Erfahrung jede Reflexion. Wird Schmerz grundsätzlich als Bestandteil des Lebens anerkannt oder nicht? Ist das Selbst bereit, ihn aufzunehmen, oder zielt es darauf ab, ihn von Grund auf abzuweisen? Mag die innere Einstellung dazu in der Umgebung des Selbst vorgegeben sein, höchst unterschiedlich je nach Kultur, sozialer Gruppe, Alter, Geschlecht, Individuum, so befindet der Einzelne darüber im Zweifelsfall dennoch selbst. Seine Einstellung mag ihm bisher unbewusst geblieben sein, aber er kann sie sich bewusst machen, um selbst festzulegen, mit welcher Haltung er nun dem gegenübertritt, was nicht zu ändern ist.
So kommt es zu einer Optionalisierung des Umgangs mit Schmerz. Um nicht missverstanden zu werden: Zweifellos sollte jede denkbare Möglichkeit zur Intervention bereitstehen, schon um die Angst vor dem Schmerz nicht größer werden zu lassen als den Schmerz selbst. Keine Frage auch, dass es eine Schwelle der Erträglichkeit von Schmerz für jedes Individuum gibt. Und doch muss nicht jeder Umgang mit dem Schmerz fraglos dem Konzept der Intervention folgen, wonach Schmerzen zu bekämpfen, nach Möglichkeit aufzuheben sind; dies ist vielmehr eine Option, keineswegs eine Norm. Eine andere Option ist das Konzept der Integration , wonach Schmerzen ebenso wie Lüste ins Leben aufzunehmen und der Integrität des Selbst einzugliedern sind. Die jeweilige Wahl hat allein das Selbst zu treffen, das äußeren Vorgaben entsprechen oder aber widersprechen kann. Von außen kommen etwa die Vorgaben einer nichtmodernen Kultur, die einen Begriff von der Unauflösbarkeit leidvoller und schmerzlicher Zusammenhänge, kurz: von Tragik hat; oder der Kultur der Moderne, die tragische Phänomene wie Leid und Schmerz endgültig zu besiegen hofft, um Freude und Lust allein übrig zu behalten. Letzteres haben moderne Menschen in einem Maße verinnerlicht, das ihnen die Intervention angesichts der
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