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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Gestaltung bedürfte kosmetischer Mittel und operativer Eingriffe, auch einer Einübung des Ausdrucks, um das Gesicht »in Stellung zu bringen«. Bei der indirekten Gestaltung hingegen nimmt das Selbst Einfluss auf die Konstellation seines Lebens, die auf seine Konstitution zurückwirkt: Begegnungen werden vorsätzlich gesucht, um das Zusammensein mit bestimmten Menschen auf sich wirken zu lassen; Situationen lassen sich gezielt ansteuern, um wünschenswerte Erfahrungen zu machen; die Haltung ist festzulegen, die hinsichtlich dessen, womit das Selbst »fertig werden muss«, eingenommen werden kann. Bestimmte Gefühle werden dadurch begünstigt, andere eingedämmt; sie prägen ihrerseits die Seele, die wiederum im Gesicht zum Vorschein kommt – ein Weg also von außen nach innen nach außen. Der Ausgangspunkt liegt jedoch im Inneren des Selbst, das Leidenschaften Raum gibt, um etwa eine Freude aufleben zu lassen, und Affekte mäßigt, damit nicht etwa ein Neid zu sehr das Gesicht verzerrt. Es klärt die Machtverhältnisse in sich und balanciert sie aus, deren Verfassung wiederum bestimmte Menschen und Situationen anzieht, andere nicht: Dies sind die wahren »Schönheitsoperationen«, die letztlich im Gesicht zum Tragenkommen. So lässt das Selbst das Leben arbeiten und ist doch der Bildhauer seiner selbst – wenn auch auf verschwiegene Weise, verschwiegen oftmals nicht nur anderen, sondern auch sich selbst, denn so glaubt es sich der Anstrengung enthoben, entlastet von der Verantwortung für das eigene Gesicht. Die bewusste Lebensführung aber besteht darin, an dessen Gestaltung selbst zu arbeiten und dazu ein ganzes Repertoire an Gewohnheiten aufzubieten und einzurichten, das auf lange Frist prägend wirkt. » Langsam und kleinlich sind alle diese Curen«, meinte schon Nietzsche ( Morgenröte , 462); aber »auch wer seine Seele heilen will, soll über die Veränderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken«.
Gestaltung des Charakters: Welchen Sinn hat Tapferkeit?
    Einstmals, in antiker Zeit, spielten Begriffe eine Rolle, die der Gegenwart nicht mehr so ohne weiteres verständlich sind: »Tapferkeit« zum Beispiel, andreía im Griechischen, Bestandteil einer Ethik der Exzellenz, der aretē , die weit mehr war als nur »Tugendethik«, insofern sie über den moralischen Kontext hinaus auf Vortrefflichkeit auch im gesamten nichtmoralischen Bereich des Lebens zielte. Arete, Vortrefflichkeit, Exzellenz galten dabei nicht einfach schon als gegeben, sondern waren durch Einübung und Gewöhnung, durch ein »Ethik machen« ( ethízein ) erst zu erwerben. Dann erst führten sie eine eigentümliche Prägung ( charaktēr ) der Seele herbei, deren Charaktereigenschaften demzufolge nicht nur Natur, sondern auch Ergebnis einer Arbeit des Selbst sind. Vier dieser Eigenschaften gehörten seit Platon zu den wünschenswerten Vortrefflichkeiten der Seele: neben Tapferkeit auch Weisheit ( sophía ), Besonnenheit ( sōphrosýnē ) und Gerechtigkeit ( dikaiosýnē ), als »Kardinaltugenden« tradiert und in christlicher Zeit um Glaube, Liebe, Hoffnung ergänzt. Keineswegs soll daraus nun ein neuer »Tugendkatalog« werden; das Selbst trifft vielmehr seine eigene Wahl, aber die genannten Exzellenzenkommen in Betracht, wenn es darum geht, die eigene Seele zu prägen.
    Besonders altertümlich erscheint dabei die Tugend der Tapferkeit: Kann sie eine exzellente Eigenschaft sein? Wo ist in der Moderne diese Exzellenz geblieben? Sie ist anrüchig geworden, verdorben von Kriegen, in die tapfere Soldaten zu ziehen hatten, um allzu oft sinnlose Tode zu sterben. Die Tapferkeit allein ihrer militärischen Bedeutung zu überlassen hieße jedoch, auf ihre zivilisatorischen Errungenschaften zu verzichten, die in Begriffen wie Mut , Courage , Zivilcourage zum Vorschein kommen, und zwar geschlechtsneutral, sodass nicht mehr nur, wie noch der griechische Begriff glauben machte, Männlichkeit allein für Tapferkeit in Frage kommt. Die Grundlage von Tapferkeit ist die Festigkeit des Selbst, die aus Ethik und Asketik, aus der bewusst gewählten Haltung und ihrer nachhaltig vollzogenen Einübung hervorgeht. Seine Eckpunkte und selbst gewählten Maßstäbe gewinnt das couragierte Selbst , indem es sich Gewohnheiten aneignet, die ihm entschieden zu handeln und zu lassen erlauben: So ist es in der Lage, mit Mut seine Angst zu überbieten, ebenso jedoch sie »tapfer« hinzunehmen, wenn sie nicht zu überwinden ist – Tapferkeit ist wesentlich eine

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