Mit sich selbst befreundet sein
macht, von seiner »Echtheit« zu sprechen. Wichtig für die Lebenskunst wäre, Sorge dafür zu tragen, nicht zum Opfer eines bestimmten Begriffs zu werden, während der Glaube vorherrscht, das wahre Leben in einem bestimmten Gefühl zu erfahren oder zu verfehlen. Gefühle zu erziehen hieße dann, sich über den Begriff, den das Selbst sich von einem Gefühl macht, bewusst zu werden und ihn gegebenenfalls zu verändern, etwa den Begriff einer idealisierten Liebe, der sich als nicht einlösbar, vielleicht sogar als ruinös erweist. So kann das Selbst zu einer Haltung finden, die den Gefühlen Raum gibt oder nimmt. Auch wenn die Leidenschaft »unwiderstehlich« ist, kann das Selbst ihr nun nachgeben oder eben nicht.
Darauf beruht der zweite Akt der Gestaltung, der auf die Realisierung des Möglichen, die Wirklichkeit der Gefühle zielt: Auf der einen Seite kommt es nun darauf an, »Gefühle zu entwickeln«, sie zu wecken und hervorzulocken, sie aufleben zu lassen und »auszuleben«, auf der anderen Seite aber sie zu mäßigen und zu begrenzen. Sie zu wecken geschieht im Falle von Freundschaft und Liebe durch die äußerliche Zuwendung einer Aufmerksamkeit, den ostentativen Zeitaufwand und die Anstrengung, durch die hindurch die innerliche Zuwendung im Sinne einer Zuneigung entstehen kann, und nicht nur andere sind so in Versuchung zu führen, sondern auch das Selbst durch sich selbst. Die Anregung zur Entwicklung von Gefühlen kann eine natürliche sein und stammt vom »Leben selbst«, von Situationen und Begegnungen, die sich ohne eigenes Zutun ergeben. Und sie kann eine künstliche sein, willentlich herbeigeführt etwa durch Vorstellungen , die das Selbst sich macht und die bewirken, dass es auch ohne konkreten Anlass zu fühlen beginnt; die Vorfreude auf eine vorgestellte Situation kann sogar gefühlvoller sein als die Situation selbst. Neben den Vorstellungen sind es ausgewählte Verhaltensweisen , die bestimmte Gefühle wecken: das Lieben wohlige, das Streiten zornige. Umgebungen kann das Selbst gezieltsuchen oder meiden, um in dieser Wohnung, jener Landschaft, diesem oder jenem Umgang mit anderen sich wohl zu fühlen oder ein Unwohlsein auszuhalten. Sind Gefühle geweckt, brauchen sie Ausdrucksformen , in denen sie gelebt und gestaltet werden können. Ein erster Ausdruck geschieht unwillkürlich körperlich, und das Selbst kann kaum darauf einwirken: Erbleichen und Erröten, Art des Atmens, Verlangsamung und Steigerung der Herzfrequenz, verbunden mit verborgenen Reaktionen im Inneren des Körpers und des Gehirns. Gestaltete Ausdrucksformen stehen in traditionellen Kulturen bereit, in der modernen Kultur aber muss jedes Selbst sich selbst um seine Formen bemühen und greift dafür oft auf Anregungen von Gefühlsträgern in Medien, Popmusik, Volksmusik, Schlagerballaden, Groschenromanen, Soap Operas , Werbefilmen, Fußballstadien zurück, von deren Wirksamkeit eine ganze Gefühlsindustrie lebt. Dass in großer Zahl nach klischeehaften Angeboten gegriffen wird, verweist auf das immense Bedürfnis, wenigstens auf diese Weise, jedem leicht zugänglich, die Gefühle wecken zu können, die in der rationalen Moderne schlummern müssen. Insbesondere die Träume von romantischer Liebe sind dafür von Bedeutung, vorzugsweise sie werden in kommerziellen Formen von Romantik auf dem Markt der Leidenschaften offeriert. Entscheidend für das Subjekt der Lebenskunst ist, die Intensität seiner Gefühle einschätzen zu lernen, um nicht in ihnen unterzugehen – falls nicht gerade dies gesucht oder in Kauf genommen werden soll. Wenn nicht im vorsätzlichen Ruin, so besteht die Kunst darin, die Gefühle in dem Maß zu leben, in dem sie lebbar sind, und sei es ein exzessives. Das Maß kann eines der Intensität im Moment oder eines der allmählichen Entfaltung in der Zeit sein.
Der dritte Akt besteht darin, den aufwallenden Gefühlen den Ausdruck zu geben, in dem Gekonntheit im Umgang mit ihnen erreicht und ihre Gestaltung in Form und Intensität äußerst kunstvoll verfeinert wird. Die Differenziertheit des Ausdrucks ist von Bedeutung für das Gefühl, denn je differenzierter sein Ausdruck,desto sublimer seine Empfindung. Der Ausdruck ist eine Machtäußerung des Gefühls wie auch dessen Anerkennung durch das Selbst. Das Gefühl, das keinen Ausdruck findet, versucht seinen Machtanspruch lauter und wilder zu Gehör zu bringen; im Ausdruck aber mäßigt es seine Energie oder verliert sie ganz. Die kunstvolle Regulierung des Gefühls
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