Mit sich selbst befreundet sein
wiederum erfordert, Gefühle zu mäßigen , um sie leben zu können, denn sie sind nicht etwa nur eine angenehme oder unangenehme Begleiterscheinung des Lebens, ein Art von Hintergrundrauschen, sondern können auch hinreißen und mitreißen, ja sogar gänzlich zerreißen. Stärkung und Mäßigung sind die beiden Seiten einer Gestaltung der Gefühle, um die es allgemein in einer Kultur, im Besonderen aber bei der seelischen Sorge des Selbst geht. DasBemühen um ihre Erziehung antwortet auf ihr Zuwenig und Zuviel auf energetischer Ebene, geht dabei aber mit ihrer Deutung auf hermeneutischer Ebene einher: Entscheidend für den Umgang mit Gefühlen ist ihre Deutung ebenso wie ihre Energie.
Aber sind Gefühle nicht einfach nur »Natur«? Sind sie nicht womöglich schon in den Genen angelegt? Viele würden nicht zögern, sie je nach Deutung als »positiv« oder »negativ« gentechnisch ein- oder auszuschalten, um dann vor der grundlegenderen Frage zu stehen, ob ein Leben ausschließlich mit »positiven«, gänzlich ohne lästige »negative« Gefühle überhaupt noch lebbar oder lebenswert wäre. Was an Gefühlen Natur ist, lässt sich nicht so ohne weiteres feststellen, denn sie sind nicht nur, »wie sie sind«, sondern gleichen sich dem an, was über sie gedacht und von ihnen ausgesagt wird, abhängig von individuellen Vorlieben, geschlechtlichen Prägungen, beruflichen Notwendigkeiten, kulturellen Rahmenbedingungen. Man befindet sich somit, wenn man über Gefühle spricht, nie nur auf einer psychologischen , sondern immer auch auf einer terminologischen Ebene , auf der die Begriffe für das Empfinden des Lebens in Frage stehen. Begriffe sind nicht einfach nur ein Ausdruck für die eigentlich »authentischen« Gefühle, sondern nehmen ihrerseits Einfluss auf die Art und Weise des Fühlens. Sie prägen die Auffassungen davon, was überhaupt würdig ist, ein Gefühl auszulösen, erst recht davon, wie einem ausgelösten Gefühl Ausdruck zu verleihen ist, sodann, welche Bedeutung dem Ausdruck zukommen soll. Ein Indiz dafür, was daran Natur sein könnte, ist allenfalls aus einigen Ähnlichkeiten des Fühlens zu schließen, die den verschiedensten Menschen über Kulturgrenzen hinweg eine grundlegende Kommunikation ermöglichen. Mögen Gefühle auch biologisch und neurobiologisch verankert sein, so erfahren sie doch je nach Kultur und Individuum im Laufe der Zeit Veränderungen; zahlreiche Studien der Mentalitätsgeschichte handeln davon. Wie sehr Menschen sich aber Gefühlen ausgeliefert fühlen können und wie heftig sie darauf reagieren, lässt sich der Philosophiegeschichteentnehmen, denn nur so ist die Suche nach stoischer Unerschütterlichkeit ( ataraxía ) und Leidenschaftslosigkeit ( apátheia ) erklärbar. Mit rigider Selbstbeherrschung wurden in dieser Tradition Gefühle zu bezwingen versucht: »Keine höhere Herrschaft als die über sich selbst und über seine Affekte: sie wird zum Triumph des freien Willens«, verkündet selbst noch Balthasar Gracián in seinem Handorakel (Aphorismus 8).
Ein Erbgut dieser Tradition ist die moderne Kultur, in der Gefühle eher zurückzuhalten sind und als Privatangelegenheit erscheinen; eine neuerliche Ausformung erlebt diese Haltung in der Coolness junger Generationen. Wird die »Kälte« der Moderne beklagt, dann ist ihre scheinbare Fühllosigkeit damit gemeint, während andere Kulturen Wert darauf legen, Gefühle zu äußern, vorzugsweise öffentlich und in vorgegebener Form. Den Stellenwert der Gefühle zu behaupten, war ein Anliegen der Romantik in der Auseinandersetzung mit dem sich abzeichnenden Rationalismus und Pragmatismus der Moderne im ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhundert. Die Emotion sollte die Kognition ergänzen , um die Polarität des Lebens nicht zu verkürzen und aufzuheben – ein Impuls, der im Fortgang der Moderne freilich auf bloße Emotionalität verkürzt worden ist; seither gilt als »romantisch« das reine Gefühl , insbesondere von Liebe und Harmonie, Sehnsucht und Leidenschaft, während zur romantischen Dramaturgie im Spannungsfeld der Gefühle immer auch deren »schwarze Seite« gehörte. Zwischen den Polen von pragmatischer Rationalität und heilloser Romantik treibt die Moderne mit großer Regelmäßigkeit biographische Überkreuzungen hervor, X-Lebenswege : Bekennende Romantiker werden zu entschiedenen Rationalisten, wenn sie die mangelnde Lebbarkeit reiner Emotionalität erfahren haben. Entschiedene Rationalisten werden zu bekennenden
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