Mit sich selbst befreundet sein
Erfahrung von Schmerz prinzipiell geboten erscheinen lässt: SchonendeInterventionen zielen darauf, das »Tor der Schmerzen« zu verengen, indem die Wege der Signalübertragung anderweitig besetzt werden; mit eigener gedanklicher Arbeit kann das Selbst sein »Schmerzdenken« auch von der Schmerzempfindung lösen. Medikamentöse Interventionen verringern die emotionale Reaktionsfähigkeit; operative können etwa die Hirnaktivität im cingulären Cortex schädigen, um die Repräsentation von Schmerz »auszuschalten«. Der doppelte Weg von Intervention und Integration aber lässt sich beschreiten, wenn in Sprache, Bewegung und allen Künsten Ausdruck für den Schmerz gesucht wird: Die Äußerung, die den Schmerz von innen nach außen trägt, erkennt ihn als Teil des Selbst an und kann ihn mildern und erträglich machen – sofern das Selbst nicht ohnehin das Schweigen vorzieht, um mit ihm allein zu sein; eine Form äußerster Intimität.
Während sich der Sinn der Intervention von selbst versteht, nämlich den Schmerz wieder »loszuwerden«, scheint der Sinn der Integration erklärungsbedürftig zu sein. Mit seiner Wahl, den Schmerz tapfer zu ertragen, kann das Selbst der »anderen Seite« des Lebens wieder Genüge tun; vor allem aber kann es ihn zur Orientierung des Lebens nutzen, denn jedem Schmerz scheint eigen zu sein, im Denken stechende Fragen zu stellen: »Was hast du aus deinem Leben gemacht? Was gedenkst du noch zu tun? Bist du dir dessen bewusst, dass dein Leben begrenzt ist? Ist dir klar, dass ich dieses Leben zerstören kann? Ahnst du, dass ich bereits der Vorbote des Todes bin?« Mag der äußere Anlass auch harmlos sein, so ist dieser kognitive Schmerz doch kaum auszuhalten. Aber gerade aus diesem Grund wird der Schmerz zur Orientierung fürs Leben, die unverzichtbar ist: Möglicherweise wird diese orientierende Bedeutung sogar gesucht, wenn Menschen in einer Situation großer Orientierungslosigkeit sich selbst Schmerz zufügen. Der Schmerz zwingt die Sorge herbei, die das Selbst wieder auf den Weg zu bringen vermag, vielleicht nicht im Moment seiner Tyrannei, in dem er das Selbst vollständig besetztund allein für sich in Anspruch nimmt; jedoch danach. Der Schmerz signalisiert eine Grenze, an die das Selbst rührt, letzten Endes nämlich die Grenze des Todes für dieses Leben, an die erinnert zu werden gleichwohl wertvoll ist: Was im Leben am selbstverständlichsten erscheint, das Leben selbst, bringt der Schmerz als solches erst zu Bewusstsein. Daher das Unbehagen derer, die ihm einige Orientierung fürs Leben verdanken, über seine Entwertung in der fraglosen Intervention.
Zwangsläufig stellt das Selbst, das mit Schmerz konfrontiert ist, die Frage nach dem Sinn . Mehr als irgendetwas sonst nötigt der Schmerz diese Frage herbei, zuallererst in Bezug auf sich selbst, sodann jedoch in Bezug auf das gesamte eigene Leben, ja »das Leben« überhaupt. Eine mögliche Antwort darauf kann die Einsicht in seinen Stellenwert in der Polarität des Lebens sein. Ein stärkerer Unruheherd ist jedoch die Frage nach dem Sinn dieses Schmerzes, die ultimativ nach Antwort verlangt: »Warum dieser Schmerz? Warum gerade ich? Warum gerade jetzt?« Sie ist wohl kaum zu beantworten mit einem Sinn, der objektiv gegeben wäre. Und doch kann Sinn subjektiv durch die Tätigkeit des Deutens und Interpretierens erschlossen werden, mit der ein möglicher Sinn in den Schmerz hineingelegt wird, um ihn aus ihm herauszulesen: als Zusammenhang mit dem bisherigen Leben, mit Lebensumständen, einer bestimmten Lebensauffassung, im Hinblick auf ein künftiges Leben, als »Prüfung«, als Herausforderung. Wünschen, Interessen und der bloßen Blickrichtung der Aufmerksamkeit kommt dabei eine sinnstiftende Rolle zu, und erneut kann vom Prinzip der hermeneutischen Fülle ausgegangen werden, wonach prinzipiell weitaus mehr Sinn und Bedeutung zu finden ist, als aktuell zu sehen ist. Mit der Arbeit der Deutung eignet das Selbst sich den Schmerz und das veränderte Leben mit ihm an. Zuletzt kann der Schmerz sogar zum Mittel der Erkenntnis werden, zum Medium der Einsicht in das Wesen der Dinge, mit jener »schauerlichen Hellsichtigkeit«, wie Nietzsche ( Morgenröte , 114, »Von der Erkenntnis des Leidenden«) sieerfahren hat: Der Sinn oder Unsinn all dessen, zu dessen Entbehrung der Schmerz zwingt, erschließt sich gerade jetzt. Aus der negativen Erfahrung heraus findet das Selbst zu einer positiven Antwort auf die Frage, was wirklich wesentlich
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