Mit sich selbst befreundet sein
aufzunehmen und zu tragen, äußerstenfalls auf solche Weise, dass das, was schwer ist, letzten Endes sogar leicht erscheint. Mögliche Einübungen in die Haltung der Heiterkeit stehen von alters her umstandslos bereit: Übungen, die körperlich vollzogen werden und in hohem Maße seelisch und geistig wirken.
Singen lernen, Tanzen lernen
»Sie hätte singen sollen, diese ›neue Seele‹ – und nicht reden!« Zu dieser Einsicht kam Nietzsche erst spät, als er 1886 seine Frühschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik von 1872 mit dem »Versuch einer Selbstkritik« neu einleitete. Er meinte freilich Dichtung, nicht wirklichen Gesang, der zur hörbaren Äußerung der Seele wird, die damit aus sich herausgeht, ékstasis im Wortsinne. Mit den Mitteln der äußeren Stimme bringt das Selbst im Gesang die inneren Stimmen zum Klingen, versetzt den gesamten Körper in Vibrationen und »harmonisiert« die Bestandteile seiner selbst zum Gleichklang für einen Augenblick. Im Wechsel der Töne kommt jeder Aspekt des Selbst zu seinem Recht und setzt sich ins Verhältnis zu jedem Organ, jedem Gefühl, jedem Gedanken; das Selbstgespür verfeinert sich: Darin besteht die »heilsame Wirkung« des Singens für das gesamte Selbst, das in diesem Akt stets von neuem seine Integrität herstellt und empfindet. Es handelt sich um eine Befreiung dessen, was gebunden im Selbst existiert, und zugleich um eine Formgebung der Freiheit, denn die in der Musik gewonnene Strukturstrukturiert das Selbst und sein Leben, sinnvolle Zusammenhänge werden entdeckt, die Fülle des Lebens wird erfahrbar. Die Lust, die das Singen aus diesen Gründen vermittelt, gewährt jeder Sorge Erholung: Wer singt, sorgt sich nicht, nicht jetzt.
Im Chorgesang kann das Selbst erfahren, wie der Resonanzraum sich vervielfacht und viele äußere Stimmen zu einem einzigen Klangkörper verschmelzen: Bildung eines integrativen Megasubjekts, in dem der Einzelne jede Einsamkeit hinter sich lassen und sich glücklich aufgehoben fühlen kann. Ergreifend ist dennoch die einzelne menschliche Stimme , die sich erhebt: Aus der orchestrierten Ebene steigt sie einsam auf, schwingt sich wie mit Flügeln empor, weint und triumphiert über die Niederungen menschlicher Existenz, wie etwa die Stimme von Lisa della Casa, die 1953 die Vier letzten Lieder von Richard Strauss singt, 1947 nach Gedichten von Hermann Hesse und Joseph von Eichendorff komponiert. Aber auf der Ebene solcher Exzellenz muss das eigene Singen sich nicht bewegen, um sich entfalten zu können. Für den Alltagsgebrauch genügt es völlig, »Singer« und nicht »Sänger« zu sein, einfach nur ein wenig vor sich hin zu summen oder in den Sprechgesang des Rap zu verfallen, um sich etwas von der Seele zu singen, in einem unbeobachteten Moment auch laut aus sich heraus zu schmettern, und auf keinen Fall das morgendliche Singen unter der Dusche zu vernachlässigen, mögen andere die Kategorie »Gesang« dafür auch in Abrede stellen.
Singen hat mit dem Tanzen das tiefere Atmen gemein, die körperliche Weitung des Selbst, die zu einer Weitung auch der Seele wird. Die Seele umwirbelt das Selbst und begegnet ihm wieder von außen, in den Augen der anderen, die von der Aura des Selbst berührt sind. Ich tanze mit Markus, einem jungen Mann »mit geistiger Behinderung«, der sich heute etwas schwermütig fühlt. Ein Gedanke aber entzündet ihn und jetzt will er ihn erproben: Lernt der Körper tanzen, so lernt es auch die Seele . Die Künstlerwerkstatt, in der er arbeitet, wird zum Tanzboden und so beginnen wir zu tanzen, jeder für sich und doch beide imgemeinsamen Rhythmus. Zunächst fällt es schwer, denn wer tanzen lernt, macht Bekanntschaft mit der Schwerkraft: Sie zerrt an allem. Sie behindert alles. Die Beine fühlen sich schwer an, zu vieles ist in sie hinabgesunken, zu viele Gewichte, die aus der Seele in den Körper rutschten. So wird der Tanz zum Machtkampf mit Schwere und Schwerkraft, zu einem Aufbegehren dagegen, ihnen zu sehr ausgeliefert zu sein. Der Körper zuckt unkontrolliert, bald aber wiegen sich die Glieder im Takt, bis sie mit der Schwere zu spielen verstehen: Tanz ist Tanz, wenn ihm die Mühe nicht mehr anzumerken ist. Und schließlich gelingt es, sich aus dem gewöhnlichen, erdenschweren Dasein emporzuheben zu einer ungewöhnlichen Leichtigkeit des Seins, die selbst die zurückkehrende Schwere noch als leicht empfinden lässt. Auch die umgebenden Dinge werden in den Wirbel mit hineingerissen,
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