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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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im Leben ist.
    Sinn im Schmerz finden zu können, ist die Voraussetzung für seine mögliche Integration ins Selbst , und der Umgang mit Schmerz trägt nun zur Arbeit an dessen Integrität bei. Das Selbst als Integrität zu verstehen, zielt nicht nur darauf, divergierende Ich-Aspekte sinnvoll zusammenzufügen, sondern auch Anderes, Befremdliches und Beängstigendes wie den Schmerz integrieren zu können. Dass er in der Lage ist, jegliche »Identität« des Selbst in Frage zu stellen und es in seinem Bestand zu bedrohen, erweist nur seine existenzielle Bedeutung: Er rührt an die nackte Existenz des Selbst, an seinen Kern, den es nicht gegen ihn, sondern nur mit ihm behaupten kann, so wie es auch mit ihm untergeht. Mehr als irgendetwas sonst ist der Schmerz das Eigentliche des Selbst, sein Eigenstes und seine Einsamkeit; er fordert den völligen Rückzug, aber auch den Rückbezug des Selbst auf sich: Es muss sich um sich kümmern und für sich da sein, niemand sonst kann dies, bei allem Beistand, wirksam tun. Die Arbeit an der Integrität kommt dem entgegen: In der Kunst im Umgang mit Schmerz wird sie nachdrücklich betrieben, schon um die Last der Schmerzen über das gesamte Selbst zu verteilen, denn alle Teile gemeinsam »verkraften«, wenn sie zusammenwirken, weitaus mehr an Schmerzen als etwa ein einzelnes Organ, das an Überlastung erkrankt und schließlich zusammenbricht. Die Integrität lässt den betroffenen Teil des Selbst mit seinem Schmerz nicht allein, sondern verteilt ihn über das gesamte Selbst und versucht, ihn so zu mildern. Sie arbeitet damit neu an der inneren Kohärenz und ermöglicht dem Selbst, sich nicht gänzlich im Befremdlichen zu verlieren – sofern nicht gerade dies gewählt wird.
    Um erträglich zu werden, bedarf der Schmerz jedoch zweifellos auch einer Ausbalancierung des Lebens mit ihm. Dazu dient es,Lüste zu genießen: Eine Kunst der Lust ist notwendiger Bestandteil einer Kunst im Umgang mit Schmerz. Da das Leben mit Schmerzen zu einer enormen Anspannung führt, kommt es darauf an, zumindest Inseln der Lust zu suchen, auf denen das Selbst sich zeitweilig erholen kann, um neue Kräfte zu schöpfen. Die gesamte Skala der Lüste steht dafür zur Verfügung, und doch kommt die jeweilige Lust nicht unbedingt von selbst über das Selbst, sondern muss gesucht und verwirklicht werden. Die Lüste können sinnlicher Natur sein und das Potenzial derjenigen Sinne nutzen, die nicht vom Schmerz beeinträchtigt sind: Bilder und Gesichter zu sehen, Musikstücke zu hören, Düfte zu riechen, bestimmte Speisen zu schmecken, eine Hand zu berühren, sich äußerlich zu bewegen und innerlich zu spüren. Ebenso kann das Selbst sich abstrakter Lüste bedienen: Lüste des Denkens und der Reflexion, der Phantasie und der Erinnerung. Es kann die Lüste im Umgang mit anderen genießen, etwa die Lüste des Gesprächs, oder im Stillen für sich bleiben bei Lüsten der Lektüre, der Muße und des bloßen Seins. Die Fülle der Lüste macht Schmerzen lebbarer und vermittelt dem Selbst die Erfahrung einer möglichen Überschreitung seiner selbst, um sich wie von außen zu sehen, gerade dann, wenn es nur noch die schmerzliche Seite des Lebens kennt und sich zu erschöpfen droht.
    Die Erfahrung von Schmerz beendet keineswegs das schöne Leben , sondern bestärkt es. Schön ist das, was als bejahenswert erscheint, das aber ist nicht etwa nur das Angenehme, Lustvolle, »Positive«, sondern ebenso das Unangenehme, Schmerzliche, »Negative« – weil es die tiefere Erfahrung sein kann, die das Leben erst erschließt, das Selbst reifen lässt und es letztlich »weiter bringt«; daher wohl Epikurs Satz ( Brief an Menoikeus , 129): »Nicht jeder Schmerz ist meidenswert.« Mit dem Schmerz wird das schöne Leben zum erfüllten Leben , das die gesamte Fülle der Existenz umfasst und nicht in der Illusion gelebt wird, es allein auf die angenehme Hälfte verkürzen zu können. Ungemein schön ist gleichwohl die Freude, wenn der Schmerz vergeht, undsei es nur für begrenzte Zeit: Das Leben, das anderen als sehr gewöhnlich erscheint, wird nun zum himmlischen Geschenk. Die Haltung aber, die das Himmlische wie das Abgründige umfassen kann, ist die der Heiterkeit . Heiter ist nicht etwa dasjenige Selbst, das nur die Fröhlichkeit kennt, sondern dasjenige, das die gegensätzlichen Erfahrungen von Fröhlichkeit und Traurigkeit in sich austarieren kann. Nicht nur Freude und Lust, sondern auch Leid und Schmerz vermag es in sich

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