Mit sich selbst befreundet sein
der Beugung der äußeren Gestalt, denn die Trauer zehrt aus; traurige Gedanken und Gefühle beschäftigen das Selbst im Übermaß, vielleicht aufgrund der andauerndenAbwesenheit des anderen, mit dem es verwachsen war oder weiterhin ist, mit dem das Leben in gemeinsamen Gewohnheiten eingerichtet wurde und folglich nun allein nicht zu bewältigen ist. Umso schmerzlicher wird er entbehrt, als das Leben seine Spannung eingebüßt hat: Der andere war oder ist der andere Pol des eigenen Lebens, nicht immer nur im positiven, auch im negativen Sinne, als verlässlicher Punkt der Reibung und Auseinandersetzung; aber genau das hat ihn unentbehrlich gemacht. Wenn die Trauer andauert und dennoch keinen lebbaren Platz im Gefüge des Selbst findet, kann sie selbst zur Krankheit werden. So kommt es darauf an, ihr »Sinn«, also Zusammenhang zu geben. Der Sinn des Traurigseins könnte darin liegen, der Polarität des Lebens wieder Geltung zu verschaffen und Gefühle empfinden zu lassen, die nicht nur aus Freude, Fröhlichkeit, Liebe und Leidenschaft bestehen. Würden die Gefühle nicht in ihrer ganzen Spannweite ausgeschöpft, fiele das Selbst dem Nihilismus anheim, dem alles gleichgültig, alles geradezu metaphysisch langweilig erscheint. Um das volle Menschsein zu erfahren und das Leben zu erfüllen, bedarf es daher der Gefühle in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Nicht von ungefähr zieht der Prediger im Alten Testament das Trauern dem Lachen vor (Koheleth 7, 3): Die Begegnung mit der ernsten Abgründigkeit des Lebens lässt das Selbst reifen wie kaum etwas sonst. Das Traurigsein wäre daher, auch wenn es missverständlich klingt, eher kunstvoll auszukosten bis zur Neige.
Wenn es auch immer Formen der Trauer gab, so doch weniger solche des Traurigseins, Ausdruck einer lange währenden Geringschätzung. Eine Kunst des Traurigseins könnte darin bestehen, einem tristen Tag sein Recht zuzugestehen: Jetzt kommt es darauf an, Wohnlichkeit nicht in der äußeren Welt, sondern in sich selbst zu suchen, auch Atem zu schöpfen für andere Zeiten, und sich ihres Werts bewusst zu werden. Durch den grau verhangenen Himmel dringt kein Sonnenstrahl, der das Selbst noch wärmen könnte. Gleichgültig gegen die menschliche Befindlichkeit,mit nervtötender Beständigkeit plätschert es von oben herab, kalt und nass. Die inneren Tränen, die das Selbst vielleicht weint, rinnen außen am Fenster herab, als flössen sie über die Wangen. Immer gibt es außer dem lauten, äußeren Weinen auch das stille, innere eines Menschen in sich selbst, das äußerlich allenfalls die Netzhaut befeuchtet; vielleicht, weil alle Tränen schon geweint sind, oder auch, weil die Traurigkeit nicht vergehen will oder soll. Dem Traurigsein angemessenen Raum im eigenen Leben zuzugestehen heißt, es zu pflegen, sorgsam damit umzugehen, sich ihm gelegentlich sogar ganz hinzugeben. Möglich ist dies mit der Musik, die so viele Stücke kunstvoll komponierten Traurigseins bereithält, insbesondere die Musik der Romantik, die sich der »dunklen« Seiten der Existenz vorsätzlich angenommen hat, so Johannes Brahms in Ein deutsches Requiem nach Worten der Heiligen Schrift, mit elegischen Chorsätzen, die seit den ersten Aufführungen 1868/69 Menschen zu ergreifen vermögen: Aus dem Nichts erhebt sich der Chorgesang im ersten Satz, der der Trauer über die Vergänglichkeit des Lebens eine einzige, unendlich lange Melodie gibt, »Selig sind, die da Leid tragen«. Überirdisch melodiös singen die Stimmen im vierten Satz: »Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth!« und münden versöhnt in den folgenden, erst zuletzt vom Komponisten eingefügten fünften Satz nach dem Wort des Johannes-Evangeliums (16, 22): »Ihr habt nun Traurigkeit«. Scheinbar endlos verklingt der Gesang, wie er begonnen hat, in gelassener Ruhe im siebten Satz: eine einzige Inszenierung des Ergriffenseins.
Die Zeit des Traurigseins ist die Zeit der wachsenden Sensibilität, der tieferen Einsichten ins Leben, der Befragung des eigenen Lebens und seiner Neuorientierung. Zur Kunst wird es, Gedanken und Gefühlen des Traurigseins und der Trauer Ausdrucksformen zu geben, die zunächst spontaner Natur sind: introvertiert in Form von Insichgekehrtheit, Verschlossenheit, Gleichgültigkeit, extrovertiert in Form von Fassungslosigkeit, Entsetzen, Zorn. Der Ausdruck kann kunstvoll gestaltet werden inBildern, Texten, Gesten, Zeremonien. In althergebrachte Sentenzen, die über die Lippen der Jahrhunderte in
Weitere Kostenlose Bücher