Mit sich selbst befreundet sein
machen.
Es ist die jeweilige Zeit , und in der Moderne eben die moderne Zeit , die Melancholiker irritiert: Jede Zeit ist begrenzt, während ihr Bewusstsein ins Unbegrenzte strebt; alles, was an die Zeit gebunden ist, erscheint ihnen schwer und hat nichts von der Leichtigkeit der Unbegrenztheit an sich. Ur-Trauer empfindet das melancholische Selbst über die Entfremdung von einem zeitlosen Ursprung, über das unmögliche, allenfalls zeitweilige Einssein mit anderen in der Welt, über die mögliche Grundlosigkeit von Leben und Welt. Eine »Störung« des Zeitbewusstseins diagnostizierte Ludwig Binswanger konsequenterweise beim Melancholiker in seiner Studie Melancholie und Manie (1960). Der entscheidenden Frage aber, welches Zeitverständnis denn als Maßstab angesetzt wird, um von einer Störung des Zeitbewusstseins sprechen zu können, wurde zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet; zu gewiss erschien, dass die objektive Zeit eine linear vergehende ist, während der Melancholiker inmitten der Moderne eher das Zeitbewusstsein nichtmoderner Kulturen in sich spürt, für die die Zeit eine zyklisch wiederkehrende ist. Die vehement sich verbreitende Melancholie in der avancierten Moderne könnte als Reaktion auf die Dominanz der linearen Zeitauffassung und die extreme Beschleunigung der modernenWelt zu verstehen sein. Der Melancholiker legt den Finger auf die Wunde des zugrunde liegenden Verständnisses von Zeit, das in keinem Verhältnis zu seiner eigenen Erfahrung steht. Eine melancholische Situation entsteht demnach, wenn die Kluft der Zeiten sich auftut: Dann fühlt das Selbst sich vom Vergehen und all dem Vergangenen überwältigt, wird immer wieder darauf zurückgeworfen und findet in der Gegenwart zu keiner Haltung mehr. Der unüberbrückbare Abgrund zwischen den Zeiten treibt ein »unglückliches Bewusstsein« hervor, das Phänomen des unaufhörlichen »Grübelns« wäre so zu erklären. Wenn das Unglücklichsein aber im Abgründigen angesiedelt ist, kann es wohl nicht darum gehen, es »endgültig« zu überwinden, eher darum, es als Gewinn eines anderen Lebens zu verstehen, aus dessen Sicht das gewöhnlich gelebte Leben oberflächlich und unbedeutend erscheint.
Eine offene Frage ist lediglich die Lebbarkeit des Unglücklichseins, die Befreundung mit der Melancholie , vorausgesetzt, sie ist wünschbar. Sich mit der Melancholie zu befreunden heißt, eine Beziehung zu ihr herzustellen, sofern sie beziehungslos im Selbst vor sich hin existiert. Um eine Beziehung der Freundschaft geht es, da eine starke Bindung damit begründet wird, die dennoch beide Seiten der Bindung frei sein lässt. Eine Liebesbeziehung würde eher auf Symbiose abzielen und könnte eine wechselseitige Vereinnahmung zur Folge haben – das eine Extrem gegenüber dem anderen einer feindschaftlichen Beziehung, die die Melancholie auszuschließen versuchte. Die Beziehung der Freundschaft ermöglicht, ein Zusammenleben zu begründen, das sowohl dem Selbst als auch seiner Melancholie ein lebbares Leben erlaubt. Zeiten des Selbst und Zeiten der Melancholie lassen sich festlegen: Zeiten des Selbst, in denen der Pragmatik und Gewöhnlichkeit des Alltags Rechnung getragen wird, und Zeiten der Melancholie, die nur ihr gehören, mit Gewohnheiten, in deren Umfeld sie eingebettet und gepflegt werden kann, regelmäßigen Spaziergängen, bei denen das Selbst melancholischenGedanken nachhängt, einem zelebrierten Hören von Musik, die melancholische Gefühle wachruft; auch mit einem Erlernen des Tanzens, in dem die Melancholie Ausdruck finden kann, und einer Beschäftigung mit Werken der Malerei und Dichtung, in denen sie bereits Ausdruck gefunden hat; ferner einer Pflege der Erotik, die mit sinnlichen Reizen dafür sorgt, dass die Melancholie den Faden des Lebens nicht verliert, und einer Pflege des Gartens, der mit dem zyklischen Werden und Vergehen von Natur eine andere Form von Zeit repräsentiert. Das Quälende, Selbstzerstörerische der Melancholie lässt sich mildern, wenn das Selbst sich um ein pragmatisches Arrangement für seine romantische Melancholie bemüht.
Nach Möglichkeiten der Befreundung mit der Melancholie zu suchen, geschieht keineswegs nur aus Gründen des individuellen Lebensvollzugs, sondern auch, weil eine Epoche der Melancholie denkbar ist, eine wachsende Empfindung der Sinnlosigkeit von allem und jedem, die diese Befreundung zur Notwendigkeit macht. Es kann eine Wahrnehmung der modernen Welt geben, die diese Notwendigkeit nahe legt, und es
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