Mit sich selbst befreundet sein
Gefühl des Traurigseins kann mit dem Verfehlen einer Situation zu tun haben, mit einer nicht angemessenen Reaktion des Selbst oder anderer darauf, oder mit einer vergangenen und somit verpassten Gelegenheit. Traurig kann die Aussichtslosigkeit eines Zustands machen, in den das Selbst oder andere geraten sind, eines Zustands, der in seiner Begrenztheit enttäuschend ist undnicht beliebig wieder verlassen werden kann. Regelmäßig aber kommt das Traurigsein mit der Erfahrung eines Abschieds und dem Entbehren eines anderen über das Selbst, beginnend schon mit der scheinbar harmlosen zeitlichen Trennung von einem vertrauten Menschen, von einem Geliebten oder Freund, von Eltern und von Kindern: Ein Schritt in die Einsamkeit nach der Geborgenheit des Zusammenseins ist damit verbunden, ein Schnitt in die Kontinuität der Zeit, die zerteilt wird in ein Davor und Danach. Das Selbst spürt, dass irreversibel etwas zu Ende geht, und es scheint kein Trost zu sein, dass zugleich etwas anderes beginnt. Eine frühe Erinnerung an den ultimativen Abschied geht damit einher, der, wenn auch in ferner Zukunft, unabweisbar ist; eine Erinnerung an den Tod, eine Vorahnung des metaphysischen Schmerzes, den dieser Abschied bereiten wird. Die Vorahnung nimmt jedem »kleinen Abschied« seine Harmlosigkeit; dies dürfte der tiefere Grund für die Verlustängste sein, die Kinder, und nicht nur sie, durchzustehen haben und die zwar zu besänftigen, nicht aber wirklich aufzuheben sind. In gesteigertem Maße treffen alle Phänomene auch auf den »großen Abschied« zu: Erinnerung an den Tod, Gang in die Einsamkeit, Zerteilung der Zeit, Irreversibilität der Entwicklung, dann nämlich, wenn die unwiderrufliche Trennung und das Entbehren von jemandem oder auch nur von etwas (einem lieb gewordenen Tier, einer Heimat, einer Wohnung, einer Gewohnheit, einem Gegenstand, einer Idee) zu bewältigen ist. Die äußerste Form dieser Trennung und des Entbehrens ist der Tod des anderen, der mit einem hilflosen Wort als »Verlust« bezeichnet wird; verloren wird jedenfalls die physische Gegenwart. Der seelische Schmerz, der mit der Trauer darüber einhergeht, wird in manchen Kulturen, wie ethnologische Forschungen zeigen, durch Selbstverletzung körperlich erfahrbar gemacht, wohl um ihn fassbarer zu machen.
Die Erfahrung der Erschütterung des Lebens bis in seine Grundbestandteile hinein kann Traurigkeit verursachen: zu erfahren, dass nichts Bestand hat, dass alles vergänglich ist, dass derBoden, auf dem Menschen leben, auf Schritt und Tritt brüchig ist, dass überall Abgründe sich auftun. Vom Traurig sein zu sprechen soll anzeigen, dass darin nicht etwa ein defizienter oder gar pathologischer Zustand, sondern eine Art und Weise menschlichen Seins zum Vorschein kommt: ein Sein, das wohl wesentlich zur Existenz des Menschen gehört, auch wenn anthropologische Aussagen nicht mit dem Anspruch auf eine Wahrheit des Menschseins schlechthin ausgestattet sein können. Eine Zeit des Traurigseins eröffnet Möglichkeiten, die Erfahrung subjektiv auf sich wirken zu lassen und sie zu bewahren, während die so genannte »Trauerarbeit« eher objektive Distanz suggeriert, ein Fertigwerden mit der Erfahrung, wenn nur genügend gearbeitet worden ist. Ein wohlbegründetes Traurigsein versetzt Menschen angesichts dessen, was jetzt oder künftig nicht mehr zu ändern ist, in traurige Stimmung: Was vergangen ist, lässt sich nicht mehr zurückholen. Dass überhaupt alles vergeht, lässt sich nicht ändern. Weniger zu fassen ist das scheinbar grundlose Traurigsein , das mit Aussagen verbunden ist wie: »Eigentlich stimmt bei mir alles, ich weiß gar nicht, was mit mir los ist.« Aber vielleicht gerade daraus, dass »alles stimmt«, geht dieses Traurigsein hervor: Das Leben, das nur noch die Stimmigkeit kennt, verlangt nach einem Gegenpol. Die unentwegte Lebensfreude ist erschöpfend und bedarf einer Erholung, wie sie das Traurigsein darstellt. Moderne Menschen suchen das Glück vorzugsweise in der »guten Stimmung« – kommt es zu einer »traurigen Verstimmung«, sind sie bestrebt, sich von dieser lästigen Störung alsbald zu befreien, statt dem Traurigsein den Raum zu geben, dessen es bedarf.
Kein Zweifel, dass das Phänomen des Traurigseins leidvoll ist: Das Selbst wird innerlich entkräftet, sodass es äußerlich den Kopf sinken lässt und die Augen niederschlägt. Aus dem anhaltenden und sich verfestigenden Traurigsein wird Trauer; sie »beugt die Kraft«, erkennbar an
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