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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Verschiedene Künste sind in der Lage, die Traurigkeit für eine Weile vergessen zu machen: alle Künste im Umgang mit dem Körper und der Seele, Künste des Singens, Tanzens, Lachens und die Künste, die die Schönheit der Sinnlichkeit zu leben erlauben, vorneweg die Kunst der Erotik. Ausgerechnet dann, wenn die Traurigkeit am größten ist, wird der erotische Gedanke, das erotische Empfinden am stärksten: Das traurige Selbst spürt, welcher Trost in der Erotik zu finden ist. Dass Darstellungen des Traurigseins, auch der Tango als sein tänzerischer Ausdruck, auffällig häufig mit erotischen Attributen ausgestattet sind, ist kein Zufall. Was aber, wenn die Traurigkeit sich nicht mehr trösten lässt, wenn sie nicht mehr einfach nur die »Reaktion auf Belastungssituationen« ist, wie die Wörterbücher des Positivdenkens glauben machen?
Kunst des Unglücklichseins: Sich befreunden mit der Melancholie
    Eine besondere Form von Traurigsein ist dasjenige, dessen Gründe kaum zu fassen sind: kein situatives, spezifisches Traurigsein, das mit einem Schmerz verbunden ist, der sich grundsätzlich trösten lässt. Sondern ein lang anhaltendes, unspezifisches Traurigsein, mit einem »Weltschmerz«, der untröstlich bleibt. Dieses Traurigsein, bezogen auf »das Leben« und »die Welt«, ist Melancholie , ein Unglücklichsein, das das Glücklichsein vielleicht für wünschbar, aber nicht wirklich für möglich hält. Melancholie ist die Seinsweise einer Seele, die immerzu schmerzt und sich ängstigt, ohne dass dies in irgendeiner Weise als »pathologisch« gelten könnte. Sie wird begleitet und möglicherweise auch angeleitetvon einem höchst reflektierten Bewusstsein, das die Erfahrung einer Grundlosigkeit vermittelt, die von Grund auf nicht bestritten werden kann; von einem tragischen Bewusstsein, das dem Leben womöglich mehr entspricht als jede Leugnung von Tragik; von einem Wissen darüber, wie brüchig all das ist, was Menschen schaffen, wie nichtig die menschliche Existenz selbst sein kann, und dass ihr der Boden jederzeit unter den Füßen weggezogen werden kann.
    Handelt es sich nicht um eine »reaktive Depression« als Folge akuter oder chronischer Belastungssituationen? Oder um eine »endogene Depression«, die schicksalhaft aus dem Biologischen herrührt und dem Krankheitswert einer Psychose verwandt ist? Oder um eine »noogene Depression«, die aus einem vermeintlich falschen, negativen Denken hervorgeht und gleichsam als Krankheit, nämlich als »Sinnlosigkeitsleiden« betrachtet wird? Aber der Zustand der Melancholie ist zu unterscheiden von der Krankheit der Depression , der erstarrten Gefühle und der jeder Reflexion abholden »Niedergedrücktheit«, um deren Heilung sich Therapeuten bemühen. Die gefühlsbewegte und reflektierte Melancholie steht eher für Sensibilität, Besinnung und Selbstbesinnung; das melancholische Selbst ist imstande, reflexive Distanz zu allem zu gewinnen und die Selbstverständlichkeiten zu verlieren, in denen Menschen gewöhnlich leben, ohne es recht zu bemerken; sich selbst sogar fremd zu werden und den Zusammenbruch der eigenen »Identität« zu erleben. Von der klinischen Melancholie-Diskussion, die in Wahrheit die Depression meint und dem Phänomen psychopathologisch und neurobiologisch auf die Spur kommen will, ist die literarische zu unterscheiden, die die Erfahrung der Melancholie beschreibt, und die philosophische , die einige Prämissen dieser Erfahrung klären will, etwa die Frage der Zeitvorstellung und der Identität des Subjekts, jenseits derer diese »unsagbare und schwer zu begreifende, jedoch ganz reale Dimension des menschlichen Geistes« (Toshiaki Kobayashi, Melancholie und Zeit , 1998) sich auftut: Menschsein in seiner ganzenabgründigen Fülle. Schwierigkeiten bereitet den Melancholikern vor allem die moderne Zeit, da sie in ihr um ihre Befreiung zu kämpfen haben – Befreiung nämlich von der Demütigung durch den pathologisierenden Befund der »Depression«. Es gibt an dieser »Krankheit« aber nichts zu heilen, eher ist diese Dimension des Menschseins zu pflegen. Die Melancholie wird über »Krankheit« und Erfahrung hinaus für die philosophische Lebenskunst als Lebensauffassung denkbar, die es sich angelegen sein lässt, sich der Fragwürdigkeit der Zeitauffassung, der grundlegenden Sinnlosigkeit allen Tuns, der eigentlichen Bedeutungslosigkeit menschlicher Existenz bewusst zu sein, um gerade dies zur Grundlage eines schönen und bejahenswerten Lebens zu

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