Mit sich selbst befreundet sein
immergleicher Form gegangen sind, kann er gegossen werden. Traditionelle Formen der jeweiligen Kultur haben Fragen nach dem Verhalten in Situationen wie diesen, in denen der Einzelne sich nicht mehr zu verhalten weiß, beantwortet. Alles daran wird nach der Auflösung verbindlicher Formen in moderner Zeit allerdings zu einer Frage der Wahl und der individuellen Lebenskunst. Das beinhaltet die Möglichkeit der Formlosigkeit ebenso wie ein Beibehalten althergebrachter Formen, wenn auch nicht mehr aufgrund bloßer Konvention und Tradition. Eine neue Kreativität im Leben mit Traurigsein und Trauer geht aus der Unzufriedenheit mit der Formlosigkeit hervor, die dem Empfinden nicht entspricht. Ausschlaggebend dafür ist die Wahl, die angesichts des Geschehenen, das keine Wahl mehr lässt, vom Selbst zu treffen ist. Zu wählen ist vor allem die Haltung, die eingenommen werden soll und die nicht nur eine, wenngleich wirkungslose, Ignoranz oder eine bloße Akzeptanz möglich macht, sondern auch ein Affirmieren, ein Bejahen, ein Einverstandensein, wenn auch unter Tränen.
Als natürlicher Ausdruck des Traurigseins erscheinen Tränen ; sie überwältigen das Selbst, das zeitweilig auf seine Souveränität verzichten muss, kenntlich an der Mimik, die außer Kontrolle gerät: Benommen ist das Selbst, zu keinem Gedanken mehr fähig. Das Verhältnis der Macht zwischen Denken und Fühlen kehrt sich um: Die Tränen heben die Distanz auf, die zu einem Geschehen gewöhnlich bewahrt werden kann und aus der heraus die Reflexion möglich ist. Wie durch einen Schleier hindurch fällt der Blick auf die Welt, die fremd wird und die doch nach dem Weinen, nach dem Aufruhr aller Organe im Schluchzen, mit einem Mal so still und friedlich erscheint. Die »Schwäche«, die das Weinen angeblich ist, erweist sich als Stärke: Süße Müdigkeit und eine unendliche Erleichterung überkommen das Selbst, das seine Tränen geweint hat. Die Anspannung weicht einer seligenEntspannung, daher die Bitte um die Gabe der Tränen in mancher religiösen Kultur. Eine erstaunlich reinigende Kraft ist den Tränen eigen, die den Mut zum Leben zurückbringen kann; das allein kann schon ein Grund dafür sein, sie zu weinen statt ihnen zu entgehen: kathartische Funktion des Weinens . Als Alternative bleibt nur, ein Äquivalent an Wasser zu trinken, um Tränen zu ersetzen und deren Heilkraft körperlich und seelisch doch nicht völlig zu erreichen. Auf eine Kompensation des Tränenflusses zielt impulsiv auch die Verflüssigung im übermäßigen Alkoholgenuss. Tränen können selbst eine Art von Kommunikation sein, ein Wechsel der Diskursebene , der freilich nötigenden Charakter gewinnt, wenn er eine Reaktion herausfordert, der sich zu entziehen kaum möglich ist. Um den Effekt nicht abzunutzen, gilt es, das rechte Maß zu finden zwischen dem unterschiedslosen Weinen bei jeder Gelegenheit und einer apathischen Gefühlslosigkeit. Zur Geste der Rücksichtnahme gegen andere, nicht nur der Scham, kann es werden, sich zu separieren, um zu weinen und allenfalls nur dem vertrautesten Menschen sich zu offenbaren. Tränen können schließlich die Bekundung eines Berührtseins für denjenigen sein, der nicht selbst vom Anlass des Traurigseins betroffen ist: Bekundung eines gemeinschaftlichen Seins, um Schweres gemeinsam zu tragen und auf diese Weise leichter werden zu lassen. Kurios aber erscheint, dass Menschen in größter Bedrängnis zu lachen beginnen, in größter Freude wiederum weinen, wohl unbewusst um der Polarität des Lebens willen. Das Übermaß der Freude mündet unweigerlich in Traurigkeit, neue Freuden folgen auf das überstandene Leid.
Ist es möglich, auch vorsätzlich , um der Polarität des Lebens Genüge zu tun, traurig zu sein? Zweifellos, indem schmerzliche Erfahrungen wieder erinnert werden, etwa der Schmerz der Trennung von einem geliebten Menschen, der sich, wie jeder Schmerz, im Grunde nie verliert. Und »Weltschmerz« kann zu jeder Zeit empfunden werden, Schmerz über die Vergänglichkeit des Lebens und aller Dinge, wenn auch nicht wirklich der»Welt« selbst. Im Gegenzug bedarf das übermäßige Traurigsein jedoch eines Ausbalancierens, um es in einem Maß zu halten, das lebbar ist. Auch das gehört noch zur Kunst des Traurigseins: nicht auf die Kunst und Lebenskunst zu verzichten, die ihm gelegentlich die Waage hält, ansonsten läuft das Selbst Gefahr, in der Verzweiflung unterzugehen – sofern es sich nicht gerade hierfür entschieden hat.
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