Mit sich selbst befreundet sein
Reflexion und der Entscheidung bedürfen. Das Selbst kann sich zuweilen einen Morgen, einen Abend, einen ganzen Tag schenken, ohne »Verpflichtungen«, ohne drängende Arbeit, auch wenn sie drängt, um nur da zu sein für sich selbst. Ideell bleibt das Geschenk auch dann, wenn es materiell in Erscheinung tritt: Ein Abend im Kino, ein Gespräch mit dem Freund, eine geliebte Musik, eine Stunde der Muße im Café, eine Einladung zum Essen nur für sich selbst, um auf diese Weise sich selbst die Wertschätzung zuteil werden zu lassen, die von anderen vielleicht erhofft worden war. Was fürdie Geschenke für andere gilt, das gilt jedoch auch für Selbstgeschenke: Nicht zu viel, nicht zu häufig, nicht beliebig und nicht jederzeit zu schenken, vielmehr wählerisch und gezielt, damit die Wirkung erhalten bleibt und nicht durch zu häufigen und unmäßigen Gebrauch abgenutzt wird. Das kann bedeuten, die Erfüllung eines Wunsches, den das Selbst hegt, hinauszuzögern, um nicht zu riskieren, dass das Geschenk als wertlos betrachtet wird, nur weil dem Wunsch die Erfüllung schon auf dem Fuße folgt. Um im rechten Maß schenken zu können, bedarf es der Selbstmächtigkeit, die zur asketischen Verzögerung in der Lage ist und jedes Zuviel, auch jedes Zuwenig, jedes beliebige Geben, auch jedes beliebige Nehmen ausbalanciert.
Nicht dazu, jederzeit nur Gutes zu erfahren, sind die Geschenke des Selbst für sich da, sondern um problematischen Erfahrungen gegenzusteuern und vorsätzlich »Positives« zu suchen, wenn »Negatives« zu sehr bedrückt. Mit der Suche danach, »was mir gut tut«, lassen sich die inneren und äußeren Ressourcen ausfindig machen und freilegen, die es ermöglichen, innere Zerrissenheiten zu überbrücken und äußere Herausforderungen zu bestehen. Ein Geschenk beflügelt, es kann sogar die Wirkung einer Droge haben; eine Stärkung des Wohlbefindens, eine Stimulation des Gehirns kann damit verbunden sein, nach neurobiologischer Lesart auch eine Dopamin-Ausschüttung. Philosophisch betrachtet handelt es sich jedoch vor allem um eine Möglichkeit, die körperliche und seelische Sorge für sich selbst wahrzunehmen. Und sich darüber hinaus in ausreichendem Maße für die geistige Sorge zu rüsten, die ihre eigenen Herausforderungen für das Selbst bereithält.
Von der geistigen Sorge
Denken und Existenz:
Was Begriffe für den Lebensvollzug bedeuten
Von Bedeutung für die bewusste Lebensführung sind letztlich vor allem begriffliche, also terminologische Aspekte. Ins Blickfeld kommt die Arbeit des »Geistes«, des nous : neben der Prägung von Begriffen für das, was an Erfahrungen zu machen ist, auch die Klärung von Begriffen, mit denen hantiert wird, als verstünden sie sich von selbst, wie etwa »Leben«, »Kunst«, »Selbst«, »Glück«, »Sinn«… Begriffe können in die Irre führen, sie können krank machen und man kann gesunden an ihnen, je nach ihrer Definition. In Begriffen steckt, über das bloße Wort hinaus, ein Vorverständnis, ein Konzept, eine Vorstellung, eine Idee , was eine Sache ist oder sein soll und welche Bedeutung ihr zukommt. Entscheidender als die Realität kann diese Idee sein, die von ihr im Umlauf ist, ja die Idee kann ursächlich für die Realität sein, etwa im Falle einer Revolution. Oft ist es die innere Logik von Begriffen, die das individuelle Denken vorstrukturiert und organisiert, und niemand wüsste im Nachhinein zu sagen, wodurch oder durch wen diese Logik ins Werk gesetzt worden ist. So bergen Begriffe Eigenschaften in sich, die ihnen zugeschrieben werden und die vielleicht noch anders zuzuschreiben wären, Wahrheiten, die auch anders wahr oder von Grund auf falsch sein könnten. Der Inhalt von Begriffen ist niemals normativ , immer optativ zu verstehen: Das jeweils herrschende Verständnis ist eine Option unter anderen. Die Lebenskunst besteht darin, nicht zum Gefangenen von Begriffen mit angeblich »allein gültigen« Bedeutungen zu werden.
Das gilt vor allem für den Begriff des »Lebens«, dem das Selbst beim Vollzug seines Lebens folgt, womöglich unbewusst, ohne die jeweils zugrunde liegende Idee vom Leben selbst gedacht zu haben. Der Begriff wird zunächst gebildet, um das Leben ausgehendvon den jeweiligen Erfahrungen in eine kommunizierbare Form zu bringen ( Induktion ). Um nicht von jeder Einzelheit jeder Erfahrung jedes Mal aufs Neue erzählen zu müssen, kommt es zur Verallgemeinerung und Festschreibung: »Leben ist…«, und um nicht stets in vollem Umfang
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