Mit sich selbst befreundet sein
über die Verhältnisse, wie sie wirklich sind. Voraussetzung dafür wäre eine Arbeit der Klärung und Aufklärung, Selbstklärung und Selbstaufklärung, bei der es jedoch kaum bleiben könnte, denn der Zustand der Klarheit und Aufgeklärtheit sagt noch nichts aus über die Möglichkeit seiner Lebbarkeit . Nicht lebbar könnte sein, schlimme Verhältnisse, wie sie wirklich sind, ständig vor Augen zu haben; oder Klarheit darüber zu haben, dass ich mich stets selbst belüge, dass ich immerzu belogen werde von anderen, dass die ganze Welt durchzogen ist von Strukturen der Konspiration, der Korruption, des Nepotismus, die der Entfaltung des Selbst entgegenstehen – Klarheit hierüber macht die Welt zur Wüste, in deren Weiten das Selbst zugrunde geht.
Illusion ist, wie die lateinische Herkunft des Wortes verrät, ein Spiel, nämlich das Spiel der Täuschung , das sich dem Potenzial der Vorstellungskraft verdankt. Neurobiologisch scheint es möglich zu werden aufgrund von Hirnarealen, in denen die Neuronen mit sich selbst beschäftigt sind, mit internen Projektionen des Denkens und Empfindens statt mit Repräsentationen der Körperzustände und externer Objekte, sodass es möglich wird, ganz und gar »in Gedanken zu sein«. Es wäre schade, davon keinen Gebrauch zu machen, denn Illusionen erlauben visionäre Projektionen aus dem Gegebenen heraus ins Mögliche, aber auch den völligen Rückzug in sich selbst, um in einer eigenen Wirklichkeit zu leben, sein Inneres abzuschotten und nahezu unantastbar für Äußeres zu werden: Akt einer Selbstsuggestion, die in äußerster Bedrängnis und aussichtsloser Lage, wie Salim sieerfahren hat, lebenserhaltend sein kann. Selbst auf eine Realität, die unerträglich und doch nicht zu ändern ist, lässt sich so noch antworten. Eine Fassade lässt sich errichten, hinter der eine innere Welt entfaltet wird, von deren Reichtum andere nichts ahnen können. Aber nicht nur, wenn es Not tut , ist die Macht der Illusion nutzbar, sondern auch, wenn es Freude macht , etwa eine Rolle zu übernehmen, sich gänzlich in sie hineinzudenken und zu fühlen und darin aufzugehen. Illusionär ist diese Welt, insofern sie nichts mit einer äußeren Wirklichkeit zu tun hat; daher kann von einem »Wirklichkeitsverlust« die Rede sein. Problematisch wird diese Welt, wenn sie mit einer äußeren Wirklichkeit in einer Weise kollidiert, die auf das Selbst zurückschlägt; dann kann vom »pathologischen« Wirklichkeitsverlust die Rede sein. Die kluge Begrenzung von Illusionen ist daher ein Element der geistigen Sorge des Selbst.
Eine notwendige Voraussetzung hierfür ist das bewusste Verhältnis des Selbst zu seinen Illusionen. Eine Lebenslüge wird erst zum Problem, wenn das Selbst nicht mehr um sie weiß, eine Täuschung dann zur Enttäuschung, eine Selbsttäuschung zur Selbstenttäuschung, wenn unüberlegte, unbegründete Erwartungen damit verbunden sind. Symmetrisches Leben heißt auch, Illusionen und ein illusionsloses Leben ausbalancieren zu können. So kann das Selbst, im vollen Bewusstsein, dass es sich um Illusionen handelt, diejenigen fürs Leben wählen, mit denen es sich leben lässt. Im Unterschied zu naiven Illusionen handelt es sich nun jedoch um aufgeklärte Illusionen , Produkte einer aufgeklärten Aufklärung, die die pauschale Abwertung aller Illusionen, wie sie durch Philosophie und Aufklärung geschah, pragmatisch revidiert. Illusionen sind ein Instrument des Selbst, wählbar, einsetzbar und, wenn es erforderlich erscheint, abwählbar und absetzbar. Illusionen, die sich als unlebbar erweisen, werden durch Illusionslosigkeit begraben; umgekehrt ist mit Illusionen das Leben zu retten: Das Selbst kann das Leben erotisieren und schmücken, kann ihm Oberfläche geben und Normalität herstellen, kannvieles nicht wissen wollen, bestärkende Erfahrungen suchen und allzu irritierenden Erfahrungen zumindest zeitweilig aus dem Weg gehen. Nichts spricht auch gegen die Illusion einer Freiheit der Wahl, denn die Unfreiheit könnte ebenso gut nur eine Illusion sein; entscheidend ist, welche Illusion das Leben befördert, das als bejahenswert erscheint.
Jedes Kunstwerk ist eine Illusion, so auch das Kunstwerk des Selbst und seines Lebens. Zur Lebenskunst gehört die Kunst der Illusion , die Arbeit an der Illusion des Lebens: Sie fügt zusammen, was nicht zusammengehört und lässt als Einheit erscheinen, was nicht unbedingt eine ist. Nur so lässt sich leben, bei jedem Blick dahinter tun Abgründe
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