Mit sich selbst befreundet sein
sich auf. Illusionen bilden Formen und gestalten aus Möglichkeiten weiche Wirklichkeiten, um harte Wirklichkeiten abzumildern und lebbar zu machen. Nähe ist ihnen nicht förderlich; sich nicht mehr auf die Gipfel der Fernsicht im Gebirge nackter Fakten retten zu können, hieße, die Illusionen gänzlich zu verlieren. Daher wäre Sorge dafür zu tragen, sie nicht zu sehr der Verlegenheit auszusetzen, Wirklichkeit werden zu müssen, denn die Wirklichkeit ist ihr Tod – es sei denn, gerade er erschiene erforderlich, um sich nicht völlig von Illusionen beherrschen zu lassen. Die Regel der Kunst formuliert, wie so oft in Fragen des Maßes, Balthasar Gracián in seinem Handorakel (Aphorismus 24): » Die Einbildungskraft zügeln , indem man bald sie zurechtweist, bald ihr nachhilft: denn sie vermag alles über unser Glück, und sogar unser Verstand erhält Berichtigung von ihr. Sie kann eine tyrannische Gewalt erlangen und begnügt sich nicht mit müßiger Beschauung, sondern wird tätig, bemächtigt sich sogar oft unseres ganzen Daseins, welches sie mit Lust oder Traurigkeit erfüllt, je nachdem die Torheit ist, auf die sie verfiel: denn sie macht uns mit uns selbst zufrieden oder unzufrieden, spiegelt einigen beständige Leiden vor und wird der häusliche Henker dieser Toren; andern zeigt sie nichts als Seligkeiten und Glücksfälle, unter lustigem Schwindeln des Kopfs. Alles dieses vermag sie, wenn nicht die vernünftige Obhut unsererselbst ihr den Zaum anlegt.«
Trotz aller Klugheit, die im kunstvollen Gebrauch der Illusionen zu liegen scheint, bleibt es eine mögliche Option und legitime Operation im Rahmen der Lebenskunst, gänzlich illusionslos zu leben. Ein Leben ohne Illusionen steht der Resignation nicht fern, aber selbst in diesem Fall stellt sich die Frage, ob nicht auch aus ihr, von der viele Menschen ohne ihr Zutun überfallen werden, eine vorsätzliche und bewusste Kunst der Resignation zu machen wäre. Jedenfalls in moderner Zeit könnte dies attraktiv erscheinen, um einem hemmungslosen Optimismus und manischen Perfektionismus frontal zu widersprechen, denn es gibt Gründe dafür, das Leben anders als nur »positiv« zu sehen, ja eine »negative« Sichtweise für die ehrlichere zu halten. Ist es nicht so, dass zur Resignation bisweilen mehr Anlass besteht als zur zukunftsfrohen Schönfärberei? Zum Anlass für Resignation auf der ganzen Linie wird freilich unwillentlich der moderne Mensch selbst, der vieles zu wissen glaubt und doch zu realisieren hat, wie wenig er im Grunde wissen kann; der absoluten Sinn erwartet und an der kleinsten Sinnlosigkeit verzweifelt; der universelles Verständnis zwischen allen erstrebt und mit dem kleinsten Missverständnis nicht mehr zu leben versteht; der außer dem perfekten Gelingen nichts gelten lässt und schon an einem krummen Nagel scheitert.
Zu unterscheiden wäre zwischen einer selektiven Resignation , wie sie gelegentlich angebracht erscheint, bezogen auf eine bestimmte Lebenssituation, auf die Beziehung zu einem anderen Menschen oder zu einer Sache; sowie einer totalen Resignation , bezogen auf das Ganze des eigenen Lebens, das menschliche Leben überhaupt oder gar die Gesamtheit der Welt. Selektiv oder total: Das sind die Optionen, zwischen denen eine Wahl zu treffen ist. Resignation in einer dieser Varianten steht immerhin auch dann noch zur Verfügung, wenn es sonst nichts mehr zu wählen gibt und ein misslicher Zustand einfach hinzunehmen ist. Ihre »Kunst« zielt darauf, die Resignation zur bewussten Haltungzu machen und sie in vielen Details bis zum Raffinement zu verfeinern. Jede Arbeit an einem Gelingen wird nun wissentlich und willentlich eingestellt, denn sie entzöge der Resignation den Boden. Nur noch sparsamer Gebrauch wird vom Lachen gemacht, dessen tröstende Kraft das Selbst daran hindern könnte, völlig in der Resignation aufzugehen. Selbst die Haltung der Skepsis erscheint noch problematisch, denn sie erhebt allzu maßvolle Ansprüche an Wissen und Sinn, die möglicherweise die Resignation überflüssig erscheinen lassen könnten. Wenn es denn aber sein muss, sich im Unvollkommenen, Vergänglichen und Fragmentarischen wirklich einzurichten, dann wenigstens ohne jede innere Überzeugung.
Lebensmüdigkeit, Lebensüberdruss, Lebensekel
Die Kunst der Resignation ist der Beweis dafür, dass das Leben keineswegs geliebt werden muss, um Lebenskunst entfalten zu können. Lebenskunst kann vielmehr heißen, das Leben, aus welchen Gründen auch immer,
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