Mit sich selbst befreundet sein
Regelmäßigkeit wiederkehrt; oder daran zu erinnern, dass das Leben noch andere Erfahrungen bereithält. Am Horizont zeichnet sich schon die Fäulnis des Todes ab, und er erscheint als absolutes Nichts, als Nichtexistenz und Nichtsein von allem. Alles, was ist, trägt den Tod schon in sich, und so ist alles nur ein Dahinsiechen, Leben selbst nur ein unbedeutender Moment, einsam und bemitleidenswert, kaum wert, gelebt zu werden. Da die Konfrontation mit dem Tod so grausam ist, erscheint das Leben nur noch möglich als ein Vergessen des Todes.
Ist dies aber nicht die »eigentliche Wahrheit«, dass das Leben überhaupt ekelhaft ist? Ob es die eigentliche ist, könnte zweifelhaftsein; unzweifelhaft ist nur, dass der Ekel eine Wahrheit zum Ausdruck bringen kann und dass Nietzsche ihr Prophet ist: »Ekel, Ekel, Ekel« ( Also sprach Zarathustra , »Der Genesende«). Kaum ein Mensch hat den Ekel am Leben, am Menschen, an der Welt so nachhaltig aufgespürt und so gründlich im Selbstexperiment erprobt wie Nietzsche, angewidert und angeekelt von allem, worin er Lebensverneinung vermutete, bevor er selbst aus dem rabiaten Nein zur Lebensverneinung das emphatische Ja zu einem anderen Leben zu ziehen verstand. Der Ekel, der herrschend wird, zwingt diese Wahl herbei: Ja zum Leben oder Nein. Für eine Weile lässt sich noch auf die Lust setzen, die über die Macht verfügt, den Ekel vergessen zu machen, zumindest zeitweilig; was aber ist, wenn sie die erforderliche Intensität nicht mehr zu gewinnen vermag? Ist der Ekel dann die Quelle einer letzten, freilich im Wortsinn perversen, verkehrten Lust? Menschlicher Erfindungskraft, was die Freilegung von Quellen angeht, aus denen sich noch leben lässt, ist das Äußerste zuzutrauen, und eben auch dies. Die Grundfrage des Lebens stellt sich aber mit unabweisbarer Dringlichkeit, sobald keinerlei Einbettung in lustvolle Beziehungen, welcher Art auch immer, mehr zur Verfügung steht; ohne jede Einbettung wiederum erscheint das Leben selbst in wachsendem Maße widerlich. Der Ekel wächst, weh dem, der Ekel birgt…
Ekel ist so abstoßend, dass er auf eine starke Anziehungskraft schließen lässt, an die er rührt. Wenn sonst nichts bleibt, dann bleibt noch dies, um ins Verhältnis zum Leben zu kommen und wenigstens auf negative Weise den Wert des Lebens neu zu entdecken: Ekel ist ein Element des Gespürs, ein Indikator für das Leben , das nicht mehr gelebt werden kann, sei es das eigene Leben, das als ekelhaft empfunden wird, oder das Zusammenleben mit anderen in dieser oder jener Form. Es handelt sich um ein absolutes Nein von solcher Durchschlagskraft auf alle Sinne und alles Denken, dass die starke, wenngleich negative Orientierungsleistung des Ekelhaften nicht übersehen werden kann undnicht übergangen werden sollte. Alle Ekelhaftigkeit verweist auf eine mögliche Zärtlichkeit, und allerdings auch umgekehrt. Wo Ekel ist, dort ist noch eine große Leidenschaft verborgen. Selbst der Ekel am Menschen kündet noch von der Leidenschaft für ihn. Daher die Wut des Misanthropen gegen diejenigen, die den Menschen durchschauen und gar glücklich machen wollen, noch dazu mithilfe von Logik und Technik. Selbst Neid, Hass, Bosheit, Hässlichkeit, Krankheit bergen in seinen Augen weit mehr Leben in sich als die Rationalität dieser Entwürdigung; davon handeln Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864). Glücklich, wer sich auf solche Misanthropie ebenso wie auf Philanthropie versteht, denn so gut oder schlecht kann es um die Menschheit nicht bestellt sein, dass die eine oder andere Haltung allein fürs Leben ausreichen würde. Balancierend zwischen Ekel und Emphase lässt sich schließlich besser über Sinn und Sinnlosigkeit von Mensch und Welt nachdenken.
Sinn oder Sinnlosigkeit? Vom Sinn des Lebens
Ist das Leben sinnvoll? Ist es sinnlos? Ist »alles« sinnvoll oder sinnlos? Kaum eine Frage beschäftigt moderne Menschen so sehr wie diese. Die Behauptung von Sinn, umgekehrt die Klage über die Sinnlosigkeit von Existenz und Welt ist ein modernes Dauerthema. Für die einen ist alles voller Sinn, während in den Augen anderer von Grund auf alles in Frage steht, »alles gleich«, »alles Unsinn« ist. »Und der Sinn?« »Der Sinn…«: Das ist kein populäres Zitat aus dem Jahr, sagen wir, 2001, sondern stammt aus Antonin Tschechows Drei Schwestern von 1901. Alles nur Schein, sagt da der Doktor: »Vielleicht scheint es uns bloß, dass wir existieren, aber in Wirklichkeit gibt es uns
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