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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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zu hassen, zu verabscheuen und trotz allem nicht verlassen zu wollen: Beispiel Schopenhauer, der den Willen zum Leben verneinte und keinen Sinn mehr in irgendwelchem Tun und Lassen sah, bevor er sich nach seiner Übersetzung des Handorakels von Gracián doch noch zu einer Art von griesgrämigem Lebensmut hinreißen ließ. Es gibt keine Norm, der zufolge das Leben zu bejahen wäre, und es kann gute Gründe dafür geben, das Leben nicht für schön zu halten, zeitweilig oder auch im Ganzen. Selbst eine implizit normative, ontologische Grundvoraussetzung, wonach es »gut sei für den Menschen zu sein«, ist nicht für jeden nachvollziehbar. Die zugehörige »Grundwerterfahrung« ist zwar möglich, aber nicht verbindlich; vielen bleibt sie trotz aller Deklamation und Proklamation verstellt, und die anderen machen sie auch nicht alle Tage. Wenn überhaupt irgendwo, dann liegt das Bewusstsein für den möglichen Wert des Lebens darin begründet, dass es ohne weiteresauch nicht sein kann. Das Leben kann schön erscheinen – notwendigerweise kann jedoch auch das Gegenteil der Fall sein; die Abkehr vom Schönen ist eine reale Möglichkeit. Und ist es nicht wirklich unerträglich, ja nachgerade ekelhaft, immerzu nur Schönes, Bejahenswertes vor sich zu sehen? Wie sollte man sich dessen erwehren, wenn nicht durch Überdruss? Ist die gute, schöne Welt nicht gelegentlich einer profunden Übelkeit würdig?
    Zuweilen ist es einfach nur Lebensmüdigkeit , die sich einstellt, und sie hat ihren Grund vielleicht nur darin, dass die chemischen Stoffe für neuronale Aktivitäten im Gehirn aufgebraucht sind und Zeit zur Regeneration brauchen, die sie nur im Schlaf finden können. Fraglich ist, ob es sich um eine temporäre Lebensmüdigkeit handelt, auf die sich reagieren lässt mit etwas Muße und Erholung und eben »einer Mütze voll Schlaf«. Oder ob eine dauerhafte Erscheinung daraus wird, die als solche ernst zu nehmen ist: das Leben nicht mehr leben zu wollen, es nicht mehr zu können, am Ende angekommen zu sein. Vielleicht ist dies ja ein schönes Ende: müde zu sein wie am Abend eines langen und erfüllten Tages, die Müdigkeit selbst noch eine Weile zu genießen und zurückzublicken, bevor definitiv klar ist, dass es nun Zeit ist zu schlafen, in welcher Form auch immer. Das Leben ist abgelebt und verliert von selbst seinen Sinn, nicht jedes Leben, sondern nur dieses eine, das am Ende ist.
    Etwas anderes als Lebensmüdigkeit ist der Lebensüberdruss , wie er sich in der Langeweile bereits angekündigt hat. Früheren Zeiten schon geläufig ( taedium vitae ), wird er zum Problem insbesondere moderner Gesellschaften des Wohlstands, in denen alles schon gemacht ist, nichts mehr zu bewältigen, nichts zu überwinden, nichts zu tun übrig bleibt. Alle Möglichkeiten stehen zur Verfügung, nur die eine nicht, die in weiter Ferne läge und die Faszination des Selbst auf sich ziehen würde, das alles dafür tun könnte, sie trotz allem zu realisieren. So aber kann das Leben »nichts Neues« mehr bieten, alles schon mal da gewesen, allesschon erlebt: Moderne Menschen, gänzlich auf Neues fixiert, als läge darin allein das Leben, können sich der Konsequenz ihrer Haltung schwerlich entziehen. Letztlich geraten sie in ein Ressentiment gegen das Leben, mit dem sie zutiefst unzufrieden sind und an dem sie Rache nehmen wollen dafür, dass es zu intensiv, zu wenig intensiv oder »immer nur dasselbe« ist: Ganz wie bei einem Essen, das zu viel, zu wenig und zu eintönig sein kann, ist davon die Rede, das Leben »satt zu haben«. Wer Lebensüberdruss empfindet, kann keinen Sinn mehr im Leben sehen, nicht im eigenen, nicht im Leben überhaupt; das »Große Umsonst« besetzt Denken und Fühlen, und wenn es andauert, steigert sich der Lebensüberdruss bis zum Ekel.
    Ekelhaft ist das, was man in keiner Weise mag, nicht liebt, vielmehr hasst, nicht schön findet, sondern hässlich, nicht nur sinnlos, sondern sinnwidrig, widersinnig, widerlich. Es stinkt, es ist »zum Kotzen«, nicht zu ertragen, eben »ekelhaft«. Lebensekel bezieht sich auf das Leben als Ganzes: nicht etwa nur keinen Sinn, sondern Widersinn in ihm zu sehen, nicht nur im eigenen, sondern in jedem Leben. Wenn der Ekel aber auf das Dasein als Ganzes gerichtet ist, stellt sich die Frage, ob das Leben überhaupt, nicht nur jetzt, sondern auf Dauer noch bejaht werden kann. Vergeblich, noch davor zu warnen, allzu weit reichende Konsequenzen aus dem Drama zu ziehen, das mit verlässlicher

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