Mit sich selbst befreundet sein
dem Sinn zu stellen? Eher dürfte es pathologisch sein, dies nicht zu tun, und zwar in einem sehr direkten Sinne: Die nicht gestellte, erst recht die nicht beantwortete Frage kann ein Leiden an Sinnlosigkeit hervortreiben, das wiederum Krankheiten nach sich ziehen kann, die zwar mehr oder weniger konventionell zu behandeln sind, deren eigentliche Ursache jedoch weiterwirkt, wenn sie nicht erkannt wird. Das Fehlen von Sinn, häufig als »Ausgebranntsein« ( Burnout-Syndrom ) erfahren, ist ein Versiegen der Quellen des Lebens, verursacht davon, dass die Zusammenhänge des Tuns und des Lebens nicht mehr sichtbar sind, nicht individuell, nicht gesellschaftlich. Sinn hingegen stellt eine unendliche Ressource an Kräften dar, deren Bedeutung darin liegt, wie ein umfassendes Immunsystem zu wirken, das Schwierigkeiten und Bedrohungen aller Art zu parieren erlaubt. Sinn begeistert. Sinn nährt. Nur diese Erfahrung setzt ausreichende Kräfte für die Bewältigung des gesamten Lebens und einzelner Lebenssituationen frei. Das Sinnbedürfnis ist gesättigt, wenn alles ineinander greift, wenn dies jedenfalls so wahrgenommen wird. Gibt es also etwas Wichtigeres als Sinn?
Nicht immer hat sich die Sinnfrage in solchem Maße gestellt, und nicht überall greift sie um sich; sie bricht dort auf, wo viele Zusammenhänge fragwürdig werden, die lange Zeit Selbstverständlichkeit für sich beanspruchen konnten. Das aber ist eine Folge der Moderne , der endlich erlangten Freiheit als Befreiung, der Fragmentierung und Auflösung vormals fester Zusammenhänge. Ihre neurobiologische Grundlage könnte in den Möglichkeiten des erweiterten Bewusstseins zu sehen sein, mithilfe eines neuronalen Metamusters bestehende Muster zu prüfen und in Frage zu stellen; die Disponibilität mentaler und kultureller Zusammenhänge in der Moderne findet im Zerbrechen neuronaler Zusammenhänge ihr Korrelat. Zusammenhänge der Religion , des Bezugs zu Gott, der so lange in der Geschichte einen »Gesamtsinn« verbürgte, werden aufgelöst. Zusammenhänge der Politik , der verbindlichen und verpflichtenden Hierarchien, in die Individuen eingebunden waren, verlieren an Macht. In der Ökologie verschwindet die enge Gebundenheit an Zusammenhänge der Natur in der vermeintlichen »Befreiung« von ihnen. Die Einbindung der Ökonomie in Zusammenhänge der gesellschaftlichen Zwecksetzung geht in der Behauptung ihrer Selbstzweckhaftigkeit unter. Soziale Zusammenhänge der Gesellschaft , in vor- und nichtmodernen Gemeinschaften schier unauflöslich, oft zwanghaft, zersplittern und lassen vereinzelte Individuen zurück. Zusammenhänge althergebrachter Tradition, allgemeingültiger Konvention, wertgebundener Ethik, verpflichtender Moral werden Geschichte. Die moderne Anonymisierung und Funktionalisierung vieler Zusammenhänge hat zur Folge, den Sinn buchstäblich »nicht mehr zu sehen«, sodass der Eindruck sinnloser Einzelphänomene, sodann existenzieller Sinnlosigkeit entsteht. All die Beziehungen, in deren Netzen Zusammenhänge geknüpft waren, die die Menschen vormals leben ließen, zerbrechen, zuletzt auch die Zusammenhänge der Beziehung des Einzelnen zu sich selbst. So entsteht die innere Leere und äußere Kälte, die so viele beklagen und gegen die kaum einer ankommt.
Sinngebend konnte für einige Zeit in der Moderne, bis ins 21. Jahrhundert hinein, die Befreiung als Selbstzweck sein. Im fortgeschrittenen Stadium der Befreiung tritt jedoch die Sinnlosigkeit der steten Aufhebung von Zusammenhängen immer deutlicher hervor, und die Moderne wird zur Zeit der Frage nach Sinn. Die Antwort darauf kann nur sein, Sinn neu zu gründen und Sinnzusammenhänge wieder herzustellen, wenngleich auf wählerische Weise, um nicht Zwangsverhältnisse zu rekonstruieren, sondern der Freiheit Formen zu geben: Aufgabe einer anderen Moderne . Für die Lebenskunst bedeutet dies, nicht mehr, wie zu anderen Zeiten, mit der Einrichtung des Lebens in vorgegebenen Zusammenhängen oder mit deren Auflösung sich zu begnügen, sondern Zusammenhänge selbst erst wieder zu schaffen,in deren Rahmen das Leben sich einrichten lässt. Wie für jede Kunst, kann für die Lebenskunst die Arbeit am Sinn grundsätzlich eine zweifache sein: Sinn zu destruieren und zu dekonstruieren, dann nämlich, wenn bestehende Zusammenhänge zu starr, zu dominierend, womöglich tyrannisch geworden sind. Oder Sinn zu konstruieren und zu rekonstruieren, wenn das Selbst seiner bedarf. Keineswegs gibt es nur ein Zuwenig ,
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