Mit sich selbst befreundet sein
sondern auch ein Zuviel an Sinn, einen bedrückend und erdrückend feststehenden, nicht hinterfragbaren Sinn, gegen den die Dadaisten die Waffen eines unnachsichtigen »Unsinns« in Stellung brachten. Aber die Arbeit der Destruktion und Dekonstruktion ist, so scheint es, auf profunde Weise getan: Wo immer die Behauptung von Sinn noch zu hören ist, schlägt ihr schon Gelächter entgegen. Die Situation des Selbst in der fortgeschrittenen Moderne hat wohl eher mit einem Zuwenig als einem Zuviel, also eher mit der Notwendigkeit einer Konstruktion und Rekonstruktion von Sinn zu tun, um nicht endlos an der Destruktion und Dekonstruktion dessen zu arbeiten, was es ohnehin nicht mehr gibt. Mithilfe von Plausibilität und Evidenz wäre dabei auf das rechte Maß an Sinn zu achten, um ein Zuwenig aufzufangen, ein Zuviel aber zu vermeiden und vor allem, biographisch wie historisch, eine Unterwerfung des individuellen Sinns unter einen allgemeinen nicht zuzulassen: Dem Glauben an einen umfassenden Sinn wird allzu leicht der Sinn individueller Erfahrungen, selbst der Sinn eigener Beziehungen zu anderen, auch zu geliebten Menschen geopfert; sogar ein Menschenleben ist dann nichts mehr wert.
Wenn Sinn nicht mehr von selbst zur Verfügung steht, dann beginnt die Arbeit des Selbst an den Zusammenhängen des eigenen Lebens, soll es trotz allem sinnvoll gelebt werden. Die Konstruktion und Rekonstruktion wird zur individuellen hermeneutischen Tätigkeit, kritisch fragend, schöpferisch gestaltend, um eine Autonomie des Sinns anstelle einer alten oder neuen Heteronomie zu praktizieren. Sinn für sich selbst zu begründen,zielt zuallererst auf das Zusammenfügen der inneren Zusammenhänge des Selbst. Es bedeutet, die Zusammenhänge zu sehen, zu finden und herzustellen, die prägend für das Selbst sind; hierfür ist grundlegend, die Kohärenz des Selbst und insbesondere die Eckpunkte des Kern-Selbst zu definieren. Mithilfe von Selbstmächtigkeit sind die Zusammenhänge zu verwirklichen, die aus der Gestalt des Selbst ein »Sinnfeld« machen. Der am stärksten empfundene Sinn des Selbst aber liegt in der Selbstfreundschaft. In seiner Lebensführung bemüht das Selbst sich sodann um die Zusammenhänge des Lebens und verknüpft dessen unterschiedliche und widersprüchliche Bestandteile, um dem Ganzen Gestalt zu geben. Es behält die großen Linien im Blick, in denen sich der individuelle Sinn des Lebens manifestiert: die Ideen, die über Jahre und Jahrzehnte hinweg mit großer Nachhaltigkeit in mühsamer Kleinarbeit realisiert werden; aber auch die Abfolge der Geschehnisse, mit all den Zufällen und schicksalhaften Begegnungen, aufgrund derer das Leben sich im Laufe der Zeit von selbst findet – auf diesen Wegen konstituieren sich die Zusammenhänge, die zum Sinn des Lebens werden. Dabei ist Sinn nicht gleich Sinn, sondern lässt sich unterscheiden nach Graden des Zusammenhangs, nach zeitlicher Reichweite, nach den verschiedenen Ebenen des Menschseins, die jeweils für sich oder alle gemeinsam die Erfahrung einer Fülle von Sinn zu vermitteln vermögen:
1. Sinnlicher Sinn des Körpers: Sinn setzt mit der Erfahrung von Sinnlichkeit ein, vermittelt über die fünf Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens, sowie über einen sechsten Bewegungssinn und einen siebten »inneren Sinn«. Es handelt sich dabei um Sinn im momentanen Leben , den Sinn des Augenblicks, situativ, aber vollkommen erfüllend, wenn auch von begrenzter Reichweite; etwas, das im Alltag, nur für den Tag »Sinn macht« und zu genießen ist, carpe diem , etwa ein gutes Essen, ein angenehmes Gespräch, ein Musikstück, ein Tanz, ein Sportereignis – all das, was die Fülle der Sinne und des Fühlens anspricht.Wer die Sinne voll entfaltet, nimmt das tausendfältige Leben und sämtliche Erscheinungsformen der Welt wahr, sieht die Gesichter, die Gebäude, die Bäume und Gräser, hört die Stimmen, die Geräusche und den Lärm, riecht Blüten und allerlei Düfte, schmeckt Wasser und all das, was sich essen lässt, betastet Oberflächen, findet Sinn in der Bewegung des Körpers und in dessen innerer Wahrnehmung. Das Problem des modernen Verlustes an Sinn erweist sich bereits hier: Der Verfall der Sinne in der technischen Welt zieht ein Verschwinden von sinnlichem Sinn nach sich, wie dies nur im Klima moderner Abstraktion möglich ist und schließlich ein abstraktes, aus allen Zusammenhängen gelöstes Leben zur Folge hat. Für den jedoch, der mit allen Sinnen
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