Mit sich selbst befreundet sein
Sich-selbst-gleich-Bleibens zu begreifen.Das Konzept der Integrität ist eine Option, das der Identität eine andere Option, in der jedoch wohl die Lebenslüge des modernen Menschen zu sehen ist: Verbissen strebt er danach, sich selbst gleich zu bleiben, und verfehlt das Ziel doch zwangsläufig, da die Moderne ihm stets aufs Neue Veränderung abverlangt; so begründet die Identität ein Leiden an der Nicht-Identität. Identität hat Sinn als juridische Angelegenheit: als äußere Definition des Selbst durch Vorname, Zuname, Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnort, Staatsangehörigkeit. Seine Integrität hingegen ist eine hermeneutische Frage der Interpretation und inneren Definition : sich mit sich zu verständigen und festzulegen, wer oder was das Selbst ist oder sein soll. Was für die Identität ein »Sich finden« ist, wird für die Integrität zu einem »Sich definieren«, und diese Selbstdefinition entstammt zum Teil der eigenen Wahl, zum Teil »ergibt sie sich« im Laufe des Lebens und das Selbst lässt sie geschehen. Die anfängliche Mühe der Selbstbestimmung wird abgelöst von der späteren Mühelosigkeit der Selbstbestimmtheit. Wem aber die Arbeit der Selbstdefinition zu mühsam erscheint, dem bleibt der Ausweg der Selbstidentifikation : sich zu identifizieren mit einem Beispiel, einem Bild, einem auf dem entsprechenden Markt angebotenen Muster, das die Mühen der Arbeit an sich zu ersparen verspricht.
Mit der Selbstdefinition wird es möglich, über den inneren Kern seiner selbst erstmalig oder neu zu verfügen, denn die Gestaltung des Selbst geschieht wesentlich über die Bestimmung des Kern-Selbst , aus dem heraus die Gestalt in Erscheinung treten kann. Die Eckpunkte dieses Kerns und ihre Beziehungen zueinander sind verbindlich festzulegen, mit der Absicht, sich daran zu binden, nicht auf unabänderliche, aber doch auf nachhaltige Weise, denn sonst könnte von einem festen »Kern« nicht mehr die Rede sein: Ein gewisses »Maß an struktureller Invarianz« (Damasio) ist auch aus neurologischer Sicht unabdingbar für das Selbst. Es sind, aus Gründen der Überschaubarkeit, kaum mehr als sieben Eckpunkte, die diesen Kern bestimmen, immer wiederüberdacht in einer Selbstbesinnung: 1. Die wichtigsten Beziehungen der Liebe und der Freundschaft. 2. Die wenigen Erfahrungen, die fester Bestandteil des Selbst bleiben sollen. 3. Die Idee, der Traum, der Glaube, der besondere Weg und vielleicht das bestimmte Ziel des Lebens; die Sehnsucht, aus der das Selbst fast allein bestehen kann. 4. Die bestimmten Werte, die besonders geschätzt werden sollen. 5. Die bestimmten Charakterzüge und Gewohnheiten, die sorgsam zu pflegen sind. 6. Auch die spezifische Angst, die Verletzung, das Trauma, wodurch das Selbst sich im Kern definiert. 7. Vor allem aber »das Schöne«, an dem das Selbst sich orientieren kann: Wie immer es individuell und inhaltlich definiert wird, allgemein und formal kann es als Bejahenswertes gelten, als das, wozu das Selbst »Ja« sagen kann, auch bezogen auf sich und die eigene Gestalt. Schön ist etwas, das Sinn macht, eine Arbeit, eine Lust, ein Schmerz, ein Gedanke – all das, was besonders bejaht wird und somit zur Quelle des Lebens wird, die mühelos auch größte Schwierigkeiten zu bewältigen ermöglicht. Eine Übung auf dem Weg zum Kern-Selbst würde darin bestehen, sich selbst oder anderen die eigenen Eckpunkte diskursiv, schriftlich, bildlich zu vergegenwärtigen, um sie sich bewusst zu machen, bewusst ihre Definition vorzunehmen und sie gegebenenfalls zu modifizieren.
Ecken und Kanten werden auf diese Weise gebildet, Erkennbarkeit, Unverwechselbarkeit. Ambivalenzen und Polyvalenzen, Fragmente und Widersprüche haben im Kern-Selbst ihren Platz. Die Kohärenz kann auch eine Divergenz umfassen, die als solche ausgewiesen und anerkannt wird, sodass das gesamte Selbst ein geklärtes und definiertes Verhältnis dazu unterhält. So entsteht ein kerniges Selbst . Es muss nicht alles »zusammenpassen« an ihm, es besteht lediglich eine Notwendigkeit, ins Verhältnis auch zu dem zu kommen, was »nicht passt«, um nicht unvermutet davon in Frage gestellt zu werden und sich grundlos zerrissen zu fühlen. Auf Dauer unlebbar ist nur der innere Bürgerkrieg. Selbst eine »Verdrängung« kann Bestandteil der Kohärenz sein, wenn möglicheProbleme, die sich daraus ergeben, in Kauf genommen werden; sie müsste freilich als Verdrängung bewusst sein: etwas in sich zu vergraben, aber zu wissen, wo und wozu. Zu den
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