Mit sich selbst befreundet sein
Eckpunkten im Kern-Selbst zählen Einflüsse, von denen es sich bestimmen oder gerade nicht bestimmen lassen will, von Seiten eines anderen Menschen, einer Gruppierung, einer Religion oder Wissenschaft. Eine Idee kann das »Lebensthema« sein, ein Traum der Lebenstraum, dem das Selbst sich verpflichtet fühlt, ein Wert der Grundsatz oder die Lebensregel, woran es sich hält. Die wichtigsten Ressourcen werden im Kern verankert, all die Kräfte der Faszination, Affirmation, auch Negation, aus denen heraus es zu leben vermag und auf die es immer zurückgreifen kann.
Neben der Definition des Kerns bedarf das Selbst einer Festlegung seiner inneren und äußeren Peripherie . Peripher sind flüchtige Begegnungen und Aufgeregtheiten des Alltags: Sie tangieren das Selbst, ohne den Kern zu berühren. »Kandidaten« für den Kern lassen sich an der Peripherie erst erproben, bevor sie nach innen wandern. Mit wachsender Entfernung vom Kern haben wechselnde Beziehungen und Meinungen, »Neuigkeiten«, schöne Dinge, Moden und Haarfarben ihren Platz: Das Selbst definiert sich nicht über sie, sondern probiert einiges davon aus und hält sich für vieles offen. Im Kern kann es beständig und widerständig, in der Peripherie variabel und flexibel, offen für Neues sein. So kommt es zum inneren Gesellschaftsbau der Gedanken, Gefühle, Beziehungen, Haltungen und Verhaltensweisen, bis sich ein austariertes Selbst herausbildet, ein Selbst, das im Körperlichen, Seelischen und Geistigen ein definiertes Verhältnis zu sich selbst unterhält und gerade aus diesem Grund auch zu definierten Verhältnissen zu anderen in der Lage ist. Ist dies das »authentische« Selbst? Ein Selbst, das »kongruent« ist? Kommt es so zur »Selbstverwirklichung«? Aber Selbstgestaltung heißt nicht, ein verborgenes wahres Selbst ans Licht zu heben, folglich auch nicht, ihm zu entsprechen, erst recht nicht, es bedingungslos»auszuleben«, um letztlich vor den Trümmern seiner selbst und der Beziehungen zu anderen zu stehen.
Die innere Integrität begünstigt das Entstehen einer äußeren , anderen zugewandten. Das Selbst, das zum bewussten Umgang mit sich in der Lage ist, weiß auch den Umgang mit anderen zu gestalten und zeichnet sich durch Umgänglichkeit aus: bereit zur Verständigung und Kompromissbildung, zur Hinnahme von Widersprüchen, die sich als hartnäckig erweisen, zur Nachsicht, wo immer dies möglich ist, schließlich zum Verzicht darauf, Differenzen klären zu wollen bis auf den Grund; es räumt, wie schon in sich selbst, dem Fortgang des gemeinsamen Lebens Priorität ein. Im Umgang mit anderen lernt das in sich gefestigte Selbst gleichsam zu atmen zwischen den beiden Polen von Offenheit und Verschlossenheit , und mit wachsender Erfahrung kann es ein Gespür dafür entwickeln, in welcher Situation, zu welcher Zeit, gegenüber welchem Menschen welches Maß dazwischen angemessen ist. Es kann seine Integrität enger oder weiter fassen durch die Abweisung oder Aufnahme von anderen und Anderem, nicht beliebig, aber in dem Maße, in dem es Platz dafür in sich schaffen kann. Optionen sind das »Sich öffnen« ebenso wie das »Sich verschließen«, je nachdem, was dem inneren Zustand und der äußeren Situation am besten zu entsprechen scheint. Problematisch unter dem Aspekt der Lebbarkeit erscheinen lediglich die beiden Extreme der völligen Offenheit, die die Gefahr eines Verströmens in sich birgt, und der völligen Verschlossenheit, die das Selbst in existenzielle Atemnot zu stürzen droht. »Sich zu öffnen« wird zuweilen als psychologisches Allheilmittel gepriesen, führt aber als anhaltender Zustand zweifellos zu einem Zerfließen des Selbst, in dem auch andere unterzugehen drohen – und sich retten, indem sie sich abwenden. »Sich zu verschließen« ist daher eine Alternative, um sich wieder auf sich zu besinnen und sich zu definieren.
Selbststärke und Selbstachtung ergeben sich aus dem Können im Umgang mit sich und der Bestimmtheit der Kohärenz und desKerns, Selbstzweifel und Verzweiflung am Selbst aber aus dem Gegenteil. Angst ist vielleicht ein Indikator dafür, dass in der Kohärenz des Selbst »etwas nicht stimmt«, dass sie nicht fest gegründet oder an irgendeiner Stelle brüchig ist, ja dass der Kern selbst bedroht ist und das Innerste, die zentralen Beziehungen, Erfahrungen, Ideen, Werte, Gewohnheiten in Frage stehen. Sich sagen zu müssen: »Ich bin mir selbst untreu geworden«, kann nichts anderes bedeuten als: einen oder
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