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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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mehrere Eckpunkte des Kern-Selbst aus den Augen verloren zu haben. Sich eines Tages eingestehen zu müssen: »Ich bin mir selbst abhanden gekommen«, meint möglicherweise, den eigenen Kern überhaupt nicht mehr zu kennen – entweder ein Moment der Befreiung oder aber äußerster Verzweiflung. Die Verzweiflung kann dazu führen, ungehalten, verbittert, böse zu sein gegen sich selbst, gegen andere, gegen das Schicksal, die Verhältnisse, »das System«, das Leben überhaupt. Es wäre aber Sorge dafür zu tragen, niemals das Ressentiment , das Rachegefühl, den Lebensneid in sich herrschen zu lassen, denn damit vergällt das Selbst vor allem sich selbst das Leben. Es handelt sich um eine negative Bestimmung seiner selbst, denn eine positive Selbstdefinition wird nicht mehr zustande gebracht. Selbst wenn es gute Gründe dafür gibt, sollte gut überlegt werden, ob dies die Antwort etwa auf eine Verletzung darstellen kann, denn der Leidtragende ist primär der, von dem das Ressentiment ausgeht, allenfalls sekundär der, auf den es zielt. Dass das Leben des Selbst in Verbitterung dahingeht, berührt den, dem das Ressentiment gilt, eher wenig; wenn es sich um einen »Feind« handelt, freut er sich noch. Das Selbst aber wird immer einsamer, da ein verbitterter Mensch keine Anziehungskraft mehr auszustrahlen vermag. Soll das Leben überhaupt noch gelebt werden, wäre es besser, nach Schönem, Bejahenswertem für sich selbst zu suchen und an seinem Zustandekommen zu arbeiten: Auch wenn die Gründe für ein Ressentiment nicht aufzuheben sind, so sind sie doch zu übertrumpfen und zu überstrahlen, zu relativieren, wenn nicht sogar vergessen zu machen.
    Die Selbstgestaltung und Bildung des Kern-Selbst ist nie nur die Angelegenheit eines Moments, sondern immer einer Entwicklung in der Zeit: sich von Zeit zu Zeit Rechenschaft abzulegen über den Weg, der gegangen worden ist, und sich eine Vorstellung zu machen von der Richtung, die eingeschlagen werden soll. Es ist stets aufs Neue ein Entwerfen , ein Formulieren von Möglichkeiten, und ebenso ein Verwerfen , ein Verzicht auf Möglichkeiten, sei dies vom Leben ernötigt oder aus freien Stücken erbracht, da nur die Reduktion von Möglichkeiten zur Wirklichkeit führt. Es gibt Stile des Entwerfens und Verwerfens, wie es Lebensstile gibt: forsch, zögerlich, mutig, vorsichtig, wankelmütig, traumwandlerisch, phantasievoll, pragmatisch. Immer ist die gelegentliche Inkohärenz Bestandteil der Kohärenz: »Denn zu Zeiten besteht die Kunst darin, dass man gegen die Regeln der Kunst verfährt« (Gracián, Handorakel , Aphorismus 66). Nie ist die umstandslose Umsetzung eines Entwurfs möglich, immer kommt es auf Versuche an, um zu erfahren, nach welcher Seite hin der Weg offen steht und wo etwas zu korrigieren ist, welche Umwege zu machen, welche Verirrungen zu riskieren sind. Vielleicht kann in jüngeren Jahren dem Versuch mehr Raum gegeben werden als in späteren. Dass Entwurf und Existenz jedoch nie zur Deckung kommen, ist eine Bedingung der Gestaltung, soll sie ein fortwährender Prozess bleiben.
    Das wesentliche Medium der Selbstgestaltung ist die Geschichte , die das Selbst sich und anderen von sich erzählt, eine Gestaltung narrativer Zusammenhänge, in denen der Sinn des Selbst zu finden ist: »Das bin ich, das ist meine Geschichte.« Dass ein Selbst gerne seine Geschichte erzählt, hat seinen Grund in der Notwendigkeit immer neuer Selbstvergewisserung und ist zugleich eine Verfertigung seiner selbst, die auch das zusammenwachsen lässt, was nicht zusammengehört. Die Erzählung der eigenen Geschichte ist keineswegs nur Erinnerung , sondern auch Erfindung , um das Selbst und sein Leben auf »versponnene« Weise zusammenzufügen. Nicht nur die wirklichen Erfahrungen werdenzu dem Netz verknüpft, in dem das Selbst lebt, sondern auch Lücken zwischen den Erfahrungen sind erzählerisch zu schließen und neue Sichtweisen zu eröffnen, ein ständiges Stricken und Weben an der Kohärenz des Selbst, zurechtrückend, sortierend, stilisierend, vergessend. Dass ein anderer zuhört, regt zur Erzählung an, ermuntert und ermutigt dazu. Leiden wird leichter in der Erzählung, denn nun trägt nicht mehr nur einer die Last; Freuden werden erfreulicher, denn sie werden potenziert, wenn mehr als nur einer sich freut. In einer Ausweglosigkeit weist die Erzählung den Weg, insofern sie immer noch »weiter geht«. Zeit vergeht, wenn erzählt wird, und diese Zeit heilt. Zeitlicher Abstand erzeugt die

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