Mit sich selbst befreundet sein
Vorstellung räumlicher Ferne, die das Geschehene wie einen Gegenstand am Horizont der Existenz erscheinen lässt; aus der Distanz sind Zusammenhänge deutlicher zu sehen und leichter zu knüpfen. Alle Aufmerksamkeit sollte diesen »kleinen«, individuellen Erzählungen gelten, die in der Lage sind, »große« Erzählungen einer Ideologie oder Weltanschauung zu unterlaufen. Sie sind außerordentlich kreativ, gelegentlich auch inspiriert von literarischen Erzählungen wie etwa Der Steppenwolf von Hermann Hesse (1927) oder Stiller von Max Frisch (1954), die sich zur Bestärkung oder Auseinandersetzung auf dem Weg zum eigenen Selbst heranziehen lassen. Das Ziel ist eine Erzählung, die »Sinn macht« und das Selbst wie auch andere überzeugen kann. Selbstvertrauen, Selbstfreundschaft und Selbstliebe können darauf gegründet werden.
Selbstvertrauen, Selbstfreundschaft, Selbstliebe
Selbstvertrauen ist dort, wo Selbstgewissheit ist, Selbstgewissheit wiederum dort, wo ein klar definiertes Selbst ist, das sich durch alle Modifikationen in der Zeit hindurch kohärent erhält. Selbstvertrauen wächst auf der Grundlage der Selbstmächtigkeit, beruht also auf dem asketisch gewonnenen Können, mit sich umzugehen und Einfluss auf sich zu nehmen. Eigenschaften wieZuverlässigkeit, Nachhaltigkeit, Beharrlichkeit werden davon ermöglicht, zunächst in der Beziehung zu sich selbst und auf dieser Basis auch in der Beziehung zu anderen. Vertrauen entsteht dort, wo sich Worte und Taten, Behauptungen und Tatsachen nicht zu weit voneinander entfernen; es wächst in der Zeit, braucht Geduld und Längerfristigkeit. Und doch kann es nicht darum gehen, das Misstrauen gänzlich zu verlieren, auch nicht sich selbst gegenüber, will das Selbst sich nicht ins Gefängnis eines blinden Vertrauens einschließen, das keine Abweichung, keine neuen Aspekte, keine überraschende Entwicklung mehr erlaubt. Ohne einen Rest an Misstrauen gerät das Verhältnis zu sich wie zu anderen zu harmlos und zu spannungslos. Da umgekehrt bei einem Übermaß an Misstrauen jedes Verhältnis sich auflöst, gilt es das Maß des Misstrauens sorgfältig abzuwägen.
So wie Vertrauen die Basis von Freundschaft ist, so Selbstvertrauen von Selbstfreundschaft. Die Arbeit an der Kohärenz des Selbst hat letztlich zum Ziel, ein schönes, bejahenswertes Selbst zu gestalten, das mit sich befreundet sein kann. Von Selbstfreundschaft ist die Rede in Anlehnung an Aristoteles, der in der Nikomachischen Ethik (Buch 8 und 9) im 4. Jahrhundert v. Chr. vor Augen geführt hat, dass Freundschaft zu den vortrefflichsten seelischen Gütern zu zählen ist; nicht so sehr die Nutzen- oder Lustfreundschaft, sondern die wahre Freundschaft, die auf der wechselseitigen Zuwendung der Beteiligten um ihrer selbst willen beruht: Sie erscheint als wertvollste und tragfähigste Beziehung zwischen Menschen. Die Grundlage dafür aber ist die Freundschaft mit sich selbst. Sie ist, analog zur Freundschaft, vorstellbar als ein Verhältnis zwischen gleichen Interessen und Wünschen oder auch zwischen Gegensätzen und Widersprüchen im Inneren des Selbst. In ihr kommt über die bloße Kooperation hinaus ein Verhältnis der Vertrautheit zwischen den inneren Ichs zustande. Voraussetzung dafür ist die Selbstaufmerksamkeit, Selbstbesinnung und das Selbstgespräch, um sich der Differenzen und Divergenzen in sich selbst klarer zu werden, Argumentezwischen ihnen auszutauschen und gegeneinander abzuwägen, Kompromisse zu suchen und Verabredungen zu treffen. Zur Selbstbefreundung kommt es, wie in der Freundschaft, wenn die Beteiligten dauerhaft miteinander leben wollen und sich gemeinsam auf ein integrales Ganzes ausrichten.
Gegensätzliche Seiten können sich trotz allem miteinander befreunden und eine kreative Spannung aus dem Verhältnis zueinander beziehen: etwa das Denken und das Fühlen, sich widerstreitende Gedanken und Gefühle wie Furcht und Neugierde, Hoffnung und Enttäuschung, Liebe und Hass, Zärtlichkeit und Zorn, Souveränität und Ängstlichkeit, der Freiheitsdrang und das Bedürfnis nach Bindung, die männliche und die weibliche Seite in ein und demselben Selbst. Selbstfreundschaft heißt auch, mit den eigenen Launen sich zu befreunden, die nicht übergangen werden können: In ihnen kommen momentane Gedanken, Gefühle, Wünsche und Ängste zum Ausdruck, die, jeweils ein Ich für sich, das gesamte Selbst für sich allein in Anspruch nehmen wollen, ganz wie die Kinder, die die ungeteilte Aufmerksamkeit
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