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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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ihrer Eltern zu erzwingen versuchen. Sinnlos, nach den Gründen dafür zu fahnden, denn es geht nur um eine Stunde, einen Tag. Das innere Machtspiel mit einem Machtwort zu beenden, ist wirkungslos, eine konstante innere Verfassung über alle Tage hinweg wird es nicht geben. Wirksamer erscheint, den Launen den Raum zu geben, den sie brauchen, und mit ihrem täglichen Wechsel zu leben. Ein Hin- und Herfluten des Selbst kann daraus hervorgehen, das sich mal von diesem Gedanken, mal von jenem Gefühl bestimmen lässt, wenn dies ein verabredetes Element der Gemeinsamkeit ist. Zugleich erscheint es klug, nicht allzu viel davon nach außen dringen zu lassen, um die Launen nicht in der Spiegelung durch andere, die mit ihrem raschen Wechsel nicht leben wollen, noch zu verstärken.
    Sich mit sich selbst zu befreunden erfordert, die widerstreitenden Teile in ein gedeihliches Verhältnis zueinander zu setzen, sie im Idealfall zur spannungsvollen Harmonie zusammenzuspannen.Immer geht es dabei, wie in der Freundschaft, um Wechselseitigkeit statt Einseitigkeit, wechselseitiges Wohlwollen statt Übelwollen und Offensichtlichkeit des Wohlwollens anstelle seiner Verborgenheit in einem inneren Schweigen. Selbstfreundschaft gibt es nicht bei denen, die »mit sich uneins sind«, sich selbst fliehen, des Lebens überdrüssig sind und bei anderen nur Vergessen suchen: »Nichts Liebenswertes« haben sie an sich, meint Aristoteles, also können sie auch »kein freundliches Gefühl« für sich selbst empfinden; sie teilen nicht Freud und Leid in der Gemeinschaft mit sich, vielmehr freut, wenn ein Teil ihrer Seele leidet, ein anderer Teil sich darüber, und die verschiedenen Teile reißen das Selbst schier in Stücke, nur um gleich wieder Reue darüber zu empfinden. Ganz anders verhält sich dies bei denen, die ihr Selbstverhältnis klären, Einigkeit in sich selbst herstellen und, so Aristoteles, »das verwirklichen, worin sie für sich das Beste erblicken«. Eine Selbstberührung seelischer Art ist darin zu sehen; nicht etwa, um die Selbstfremdheit gänzlich zu überwinden, sondern um ein lebbares Verhältnis auch noch zum Fremden in sich zu gewinnen, sich zu befreunden, wenn schon nicht mit dem Anderen und Fremden in sich, so doch mit dem Gedanken, dass es dieses Andere eben gibt und dass es trotz allem Teil des Selbst ist. Die Selbstfreundschaft zielt darauf, eine ruinöse Feindschaft in sich zu vermeiden, die zur Selbstauslöschung führen würde – vorausgesetzt, das Selbst hält es für vorziehenswert und bejahenswert, nicht vorzeitig zugrunde zu gehen, schon gar nicht an sich selbst.
    Überlegungen zur Selbstfreundschaft haben die Geschichte der philosophischen Lebenskunst nachhaltig geprägt. Sie sind im 1. Jahrhundert n. Chr. Seneca geläufig, wenn es in seinen Augen darauf ankommt, »Freund zu sein für mich selbst« ( amicus esse mihi ), wie es im sechsten seiner Briefe an Lucilius über Ethik heißt. Alle wesentlichen Bestimmungen für das freundschaftliche Verhältnis zu anderen treffen seiner Ansicht nach auch auf das Verhältnis zu sich selbst zu: Selbstbefreundet zu sein bedeutet, nichtgleichgültig gegen sich zu sein, sondern sich um sich zu kümmern, für sich da zu sein, sich der Sorge für sich zu befleißigen und auf diese Weise nie allein zu sein, da das Selbst mit sich zusammenleben kann. Zum Wesen dieser Freundschaft gehört, sich mit sich zu beraten und sich selbst gegenüber dermaßen aufrichtig zu sein, dass Seneca den Rat geben kann, in der Beziehung zum Freund so freimütig mit ihm zu sprechen wie mit sich selbst; das Verhältnis sollte so vertraut sein wie dasjenige mit sich selbst. Zweifellos sind die Beziehungsformen von Freundschaft und Selbstfreundschaft ineinander verwoben, aber wenn danach gesucht wird, wo im Zweifelsfall der Anfang zu machen ist: immer bei sich selbst.
    Aus demselben Grund stattet viele Jahrhunderte später ein viel Verkannter sein auf Anhieb berühmt gewordenes, 1788 erstmals erschienenes Buch Über den Umgang mit Menschen mit einem kleinen Kapitel »Über den Umgang mit sich selber« aus. Es geht Adolph Freiherr Knigge dabei um die Organisation und Reorganisation der inneren Gesellschaft, die jeder Einzelne selbst ist. Es lässt sich geradezu von einer Kultivierung des eigenen Ich sprechen – wehe dem, der »sein eignes Ich nicht kultiviert«, stattdessen sich zu viel um fremde Dinge bekümmert und »fremd in seinem eignen Hause« wird: Er hat nichts mehr, wohin er sich zurückziehen

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