Mit sich selbst befreundet sein
kann, er verletzt die Freundschaft mit sich selbst (»Deinen treuesten Freund«), und das könnte sich bitter rächen, denn es gibt »Augenblicke, in welchen der Umgang mit Deinem Ich der einzige tröstliche ist«. Das Ziel ist Selbstfreundschaft, um »ebenso vorsichtig, redlich, fein und gerecht mit Dir selber um(zu)gehn, wie mit andern«, und wie einem guten Freund gegenüber auch in unangenehmen Dingen aufrichtig gegen sich selbst zu sein, »fern von Schmeichelei«. Da die Beziehung zu sich selbst die Grundlage für die Beziehung zu anderen ist, darf es zu keiner Selbstvernachlässigung kommen; daher kennt Knigge »Pflichten gegen uns selbst«, die sogar die »wichtigsten und ersten« sind. Sie finden ihren Ausdruck in der leiblichen und seelischen Sorge fürsich. Die Sorge besteht vor allem darin, sich selbst ein »angenehmer Gesellschafter« zu sein: »Mache Dir keine Langeweile!«
Die Selbstfreundschaft ist gleichwohl noch steigerungsfähig und kann zur Selbstliebe werden, die als die intimere, wenngleich aus diesem Grund wohl auch weniger freie Selbstbeziehung verstanden werden kann. Der zugrunde liegende griechische Begriff philautía steht außer für Selbstfreundschaft auch für die Selbstliebe. Die aber ist umstritten von Anfang an: Sie sei das größte Übel, meint Platon im fünften Buch seiner Gesetze ; sie halte die Menschen davon ab, gut und gerecht zu sein. Sich selbst nicht zu lieben, könnte allerdings ein noch größeres Übel sein, denn es verhindert, sich anderen zuwenden zu können. Das wendet jedenfalls Aristoteles gegen Platon ein: Selbstliebe und Selbstfreundschaft seien die Grundlage für die Zuwendung zu anderen; das Verhalten gegenüber anderen stamme »aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst«. Wer zu sich selbst kein Verhältnis hat, kann auch zu anderen keines gewinnen. Aristoteles ist davon überzeugt, dass dies die wichtigste Voraussetzung für jede Beziehung zu anderen, insbesondere für die Beziehung der Freundschaft und der Liebe ist, denn wer mit sich selbst nicht befreundet ist, soll heißen: wer sich selbst nicht mag, der kann auch andere nicht mögen, geschweige denn ihr Freund sein. Das leuchtet durchaus ein, denn wer »mit sich selbst nicht im Reinen« ist, das heißt, wer die inneren Verhältnisse seiner selbst nicht geklärt hat, der ist viel zu sehr mit sich beschäftigt, als dass er sich anderen zuwenden könnte. In der Beziehung zu sich wird das Selbst zur Beziehung zu anderen erst fähig.
Gibt es nicht sogar im Christentum, der Religion der Liebe, diesen Satz, den alle kennen und doch wenige ernst nehmen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« ( agapēseis ton plēsíon sou hōs seautón , Matthäus 19, 19 und 22, 39; Lukas 10, 27; zurückgehend auf 3. Mose 19, 18)? »Wie dich selbst«: Die Selbstliebe gilt offenkundig als Grundlage für die Nächstenliebe, auch wenn das theologisch nicht immer so erklärt wird. Wann ist das hōs seautón von diesem Satz abgetrennt worden? Eine historische Zäsur lässt sich spätestens um 370 n. Chr. konstatieren, als Basilius der Große die Längeren Regeln für das Mönchtum formuliert: Kaum ist das vollständige Liebesgebot, Gott zu lieben sowie den Nächsten wie sich selbst, korrekt zitiert, fällt die vorausgesetzte Selbstliebe in der darauf folgenden Interpretation schon weg, bevor sogar ausdrücklich vor ihr gewarnt wird. Dieses Grundmuster sollte über viele Jahrhunderte christlicher Geschichte hinweg erhalten bleiben. Warum aber wurde trotz inständiger Verkündung der Nächstenliebe ohne Selbstliebe in all dieser Zeit der Egoismus nicht besiegt? Wohl weil es vergeblich ist, sich dem Nächsten zuzuwenden, wenn die Selbstliebe nicht die Kräfte dafür zur Verfügung stellt, die verausgabt und verschenkt werden können. Es mangelt an der Ethik im Umgang mit anderen im selben Maße, wie es an der Ethik im Umgang mit sich fehlt. Wo also, wenn nicht in der Freundschaft mit sich selbst und »Selbstliebe«, wäre die Ethik besser zu erlernen und einzuüben?
Noch im 17./18. Jahrhundert scheiterte der Versuch einiger Moralisten und Aufklärer, die Selbstliebe zu rehabilitieren ( amour de soi im Unterschied zu amour-propre bei Malebranche, Vauvenargues, Jean-Jacques Rousseau). Auszulöschen aber ist sie nicht, wie sich zeigt, als Bettine von Arnim sich selbst zum ersten Mal im Spiegel sieht und dabei erlebt, wie ihr Herz unwillkürlich dieser Gestalt entgegenschlägt: Selbstliebe auf den ersten Blick, denn »ein solches
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