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Mit sich selbst befreundet sein

Mit sich selbst befreundet sein

Titel: Mit sich selbst befreundet sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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gerecht zu werden.
    Gerechtigkeit kann hergestellt werden durch die grundsätzliche Anerkennung von Gleichberechtigung . Aber selbst dann, wenn von einer Gleichberechtigung etwa des Denkens und der Körperlichkeit ausgegangen wird, ergibt sich eine entsprechende Praxis nicht schon von selbst, sondern bedarf der ausdrücklichen Aufmerksamkeit und asketischen Einübung alltäglicher Praktiken, auch eines »affirmativen Handelns«, einer systematischenBevorzugung der benachteiligten Seite durch das integrale Selbst für eine gewisse Zeit. Schwierig wird dies bei der Frage, ob beispielsweise Gesundheit und Krankheit als grundsätzlich gleichberechtigt im Selbst betrachtet werden sollen – ernsthaft erörtert wird dies von Montaigne in seinem Essay »Über die Erfahrung«, und er kommt zu dem Schluss, man solle höflich mit seiner Krankheit umgehen, denn sie sei nun mal Bestandteil des Lebens und habe Bürgerrecht im Selbst; vielleicht werde sie heilsam sein, daher komme es darauf an, ihr nach Möglichkeit zu entsprechen und ihr gerecht zu werden. Ob auch Chancengleichheit zwischen beiden bestehen soll, ist eine andere Frage; für das Verhältnis von Denken und Körperlichkeit stellt sich diese Frage jedoch in jedem Fall: Gibt es eine gerechte Verteilung von Möglichkeiten und einen Ausgleich von Nachteilen bereits im Möglichkeitsfeld? Eine Antwort müsste auf die gleiche Ausbildung und Entwicklung beider Seiten des Selbst zielen, sodass sowohl Denken wie auch Körperlichkeit Gebrauch von den erarbeiteten Möglichkeiten machen können. Ein »affirmatives Handeln« käme wiederum der benachteiligten Seite zugute, um die jeweiligen Möglichkeiten zu verbessern; die bloß gedachte Bereitstellung gleicher Chancen sorgt nicht schon dafür, dass sie wirklich genutzt werden können.
    Gerechtigkeit kann ferner hergestellt werden durch Tauschgerechtigkeit : Eine forcierte Inanspruchnahme des Selbst etwa durch das Denken könnte nach dem Prinzip von Geben und Nehmen gegen eine zeitlich versetzte, verstärkte Aufmerksamkeit auf körperliche Bedürfnisse getauscht werden, denen zugestanden würde, gleichfalls für eine gewisse Zeit das Selbst für sich zu beanspruchen, um auf diese Weise Ausgewogenheit zu erreichen. Eine ausgleichende Gerechtigkeit wiederum dient einem Ausgleich struktureller Benachteiligungen, etwa einer körperlichen Beeinträchtigung, die nicht wieder gutzumachen wäre, deren Konsequenzen aber solidarisch vom gesamten Selbst getragen würden; durch eine verfeinerte seelische Empfindung beispielsweise ließeeine körperliche Beeinträchtigung sich wieder austarieren. Eine Aufgabe der Verteilungsgerechtigkeit hingegen ist die Verteilung knapper Ressourcen wie etwa der Aufmerksamkeit, auf die im Umgang mit sich selbst wie mit anderen so vieles ankommt. Das integrale Selbst hat umsichtig zu entscheiden, wann die Aufmerksamkeit auf wen oder was gerichtet wird, mit welcher Intensität und wie lange, und dies körperlich, seelisch und geistig, in Bezug auf sich wie auf andere. Auch um Verfahrensgerechtigkeit bemüht sich das integrale Selbst, um die Vorgehensweise auf dem Weg zu einer zu treffenden Wahl allen Teilen seiner selbst transparent zu machen und allen betroffenen Aspekten und Affekten eine Beteiligung am Prozess zu ermöglichen, Ideen aufzunehmen und vorgebrachte Bedenken zu prüfen. Da es keine äußere Instanz gibt, an die gegebenenfalls appelliert werden könnte, kommt alles auf die Bereitschaft des inneren Moderators an, sich selbst an eine Verfahrensgerechtigkeit zu binden, angespornt immerhin von der Gefahr unkalkulierbarer Konsequenzen bei ihrer Verletzung. Und schließlich geht es um Partizipationsgerechtigkeit , um die Teilhabe eines jeden am gemeinsamen Leben zu gewährleisten: Auf der Ebene intrasubjektiver Gerechtigkeit wird daraus eine Forderung des Selbst an sich, möglichst keinen Affekt und keinen Gedanken außer Acht zu lassen, sondern die Teilhabe eines jeden am gesamten Selbst zu ermöglichen. Noch der kleinste Affekt würde wütend und artikulierte sich wild, wenn er sich ausgeschlossen wähnen müsste; zumindest will er »sich aussprechen«, bevor er sich wieder beruhigt.
    Was aber Gerechtigkeit »eigentlich« ist, das lässt sich nicht, durch welche Verfahrensweise auch immer, definitiv und ein für alle Mal bestimmen. Auch Gerechtigkeit ist ein veränderlicher Begriff. Eine mehrtausendjährige, nachhaltige Arbeit an Begriff und Praxis hat nicht dazu geführt, die Frage der Gerechtigkeit

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