Mit sich selbst befreundet sein
Kontrast zu wohlfeilen Proklamationen handelt es sich dabei nicht um nur diskursiv behauptete, sondern um existenziell begründete Werte, vom Vollzug der Existenz beglaubigt, nicht immer offen zutage liegend, aber in Lebens- und Verhaltensweisen verborgen. Die Frage nach Werten lässt sich daher mit einer Wertsetzung beantworten, die individuell geschieht und zugleich zu einer gesellschaftlichen Wertsetzung beiträgt, um mit dem »Schönen« schließlich auch »Gutes« zu realisieren. Letztlich ist die ästhetische Ethik schon begrifflich ein Versuch zur neuerlichen Amalgamierung von Schönem und Gutem zum Schönundguten , ganz nach dem Vorbild der kalokagathía in der antiken Philosophie. So wird das schöne Leben auch zum wertorientierten Leben. Als solches kann es erneut ein Begriff für menschenwürdiges Leben sein, wie dies schon die Geschichte des »schönen Lebens« in der antiken Philosophie und seine Bedeutung in der abendländischen Tradition des Humanismus bezeugen. Eine Grundbedingung des schönen Lebens, ein wesentlicher Wert der ästhetischen Ethik aber ist Gerechtigkeit: Denn was wäre bejahenswert an einem Leben, in dem keine Gerechtigkeit erfahrbar wäre?
Sorge um Gerechtigkeit:
Von der Gerechtigkeit des Selbst gegen sich
Gerechtigkeit ist ein Grundproblem des Zusammenlebens von Menschen. Dikaiosýnē zu realisieren gilt in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles als »vollendete Exzellenz« ( teleía aretē ), da sie den Zusammenhalt einer Gesellschaft bewerkstelligt. Seit jeher bemüht sich die Ethik um Lösungsvorschläge dazu, in der Politik werden Versuche zu ihrer Umsetzung gemacht. Gerechtigkeit ist jedoch zuallererst ein Problem des Selbst im Umgang mit sich selbst, insofern es in sich bereits eine ganze Gesellschaft birgt. Die herkömmliche Ethik ist in diesem Punkt ergänzungsbedürftig, die Umsetzung wäre eine Angelegenheit der Innenpolitik des Selbst. In keiner Weise ist die Gerechtigkeit gegen sich selbst zu verwechseln mit »Selbstgerechtigkeit«, die das alleinige Recht und Richtigsein des Selbst im Verhältnis zu anderen behauptet. Sie ist auch nicht etwa nur eine Dreingabe zur gesellschaftlichen Gerechtigkeit , sondern trägt wesentlich zu ihrer Realisierung bei. Denn wie könnte die Gesellschaft sich um eine Gerechtigkeit bemühen, deren Wert nicht im Umgang des Einzelnen mit sich selbst verankert wäre? In Platons Staat (443 c-e) erscheint die äußere Gerechtigkeit sogar als ein Abbild der inneren: Ein gerechter Mensch sei »sich selbst Freund geworden« und verhalte sich daher auch anderen gegenüber gerecht. Er hat die Teile seiner selbst in ein wohlwollendes Verhältnis zueinander gesetzt; seine Gerechtigkeit gegenüber sich selbst beruht auf einem Austarieren der verschiedensten Elemente in ihm, auf ihrem Zusammenfügen zu einem inneren Zusammenhalt, zur Wohlgeordnetheit der Kohärenz, und so ist er dazu auch in der äußeren Gesellschaft in der Lage.
Im Laufe der Zeit ist die intrasubjektive gegenüber der intersubjektiven Gerechtigkeit gänzlich vernachlässigt worden. Die Forderung, dem Selbst gerecht zu werden, wird längst nicht mehr an sich selbst, sondern an andere, an »die Gesellschaft«, »die Verhältnisse«,»das System« adressiert. Es könnte aber sein, dass das Unvermögen, für Gerechtigkeit im Umgang mit sich selbst zu sorgen, dazu führt, sie umso vehementer von anderen einzufordern. Nach Gerechtigkeit in sich selbst zu fragen, würde dem gegenüber dazu beitragen, Sensibilität und Gespür für Gerechtigkeit, einen Gerechtigkeitssinn zu entwickeln und auf den Umgang mit sich ebenso wie auf den Umgang mit anderen und die Verhältnisse in der Gesellschaft zu beziehen. Die Ausbildung des Gerechtigkeitssinns bedarf der Aufmerksamkeit auf Zusammenhänge, die die Frage der Gerechtigkeit aufwerfen können; sie bedarf der Bereitschaft, aus den unterschiedlichsten Perspektiven blicken zu lernen, um die jeweiligen Sichtweisen kennen zu lernen; ferner einer Kenntnis von Gründen und Hintergründen, um erspüren zu können, in welcher Weise Ungleichheiten auszutarieren wären; sodann der Erfahrung im praktischen Einsatz, um mögliche Realisierungen von Gerechtigkeit zu erproben und ihre Stärken und Schwächen ausfindig zu machen; schließlich einer Reflexion der Erfahrung, um Schlüsse aus dem jeweiligen Gelingen oder Scheitern zu ziehen und das Gespür für Gerechtigkeit weiter zu verfeinern.
Im Bemühen um eine Gerechtigkeit des Selbst gegenüber sich selbst
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