Mit sich selbst befreundet sein
Schritt aus dem Haus tun zu müssen, Menschen in der Nähe oder in weiter Ferne sich für ein virtuelles Gespräch finden lassen. Am lebhaftesten ist dies erfahrbar in Chat-Rooms , den virtuellen Räumen des Plauderns und Diskutierens, in Form von Fach-Chats, Fun-Chats, Flirt-Chats, die rund um die Uhr betreten und verlassen werden können; einWohnen in Raum und Zeit von noch ganz anderer Art. Sich in diesen Räumen umsichtig zu bewegen, bedarf der Ausarbeitung einer virtuellen Sensibilität , denn die mögliche Schnelligkeit, die Abwesenheit des Gesichts anderer, auch ihrer Stimme, verführt zur Impulsivität und gänzlichen Formlosigkeit des Umgangs mit ihnen, ohne Rücksicht darauf, wie das Selbst bei ihnen »ankommt«. Nicht von ungefähr wird immer wieder, wenn auch stets vergebens, ein »Knigge« fürs Netz zu erstellen versucht; nicht zufällig vorneweg die alte goldene Regel in neuer Form: »Begegne anderen Chattern mit Respekt und Höflichkeit. Dann werden auch sie dich respektieren und höflich behandeln.«
Vor allem aber bedarf das Selbst einer virtuellen Sensibilität im Umgang mit sich selbst, will es nicht zum »Chat-Junk« werden oder der »Online-Sucht« anheim fallen. Eine virtuelle Selbstbeziehung ist möglich geworden, bei der das Selbst sich wesentlich über den Umgang mit elektronischen Medien definiert. Offenbar liegt es nahe, das eigene Leben zunächst ins Netz zu integrieren, nicht so sehr das Netz ins Leben, und so wird das Selbst zum Cyborg , zum »kybernetischen Organismus«, der sich in endlosen Verknüpfungen, in Myriaden von Möglichkeiten der Information und Kommunikation verliert, die pausenlos verfügbar sind, deren verführerische Präsenz jedoch jede Wirklichkeit unterläuft. Ist der Raum der Möglichkeiten im gewöhnlichen Leben noch überschaubar, so kennt er im virtuellen Raum keinerlei Maß. Jede Form des Umgangs mit sich wie mit anderen scheint zu zerbrechen in der Konfrontation mit dem unendlichen Raum der Information, dessen Ausdehnung räumlich nicht sichtbar, dessen Erstreckung körperlich nicht erfahrbar ist; jedes Gefühl für Raum und Zeit geht darin verloren. Ein historischer Präzedenzfall für diesen Raum ist der Raum der Phantasie , auf dessen Umsetzung in den Raum der Technologie das Selbst jedoch nicht vorbereitet ist, zu sehr ist es noch an die natürliche Begrenztheit der Bewegung in wirklichen Räumen gewöhnt, begrenzt von Bedingungen des Raumes und der Zeit. Denn es kostete Zeitund eine ganze Wegstrecke war zurückzulegen, um beispielsweise eine Bibliothek aufzusuchen, Bücher zu bestellen und Informationen in ihnen zu finden. Im Internet bedarf es dazu nur einiger Klicks, die harmlos erscheinen, es in der Summe aber nicht sind: Sie ziehen das Selbst hinein in diesen virtuellen Raum, und sein Verschwinden darin ist eine reale Gefahr, sofern nicht ohnehin wissentlich und willentlich danach gesucht wird. Das Selbst muss sich unter veränderten Bedingungen erst neu finden, sofern es seiner selbst noch bedarf und nicht der ekstatischen Erfahrung im uferlosen Netz gänzlich sich hingibt.
Ein Können des Umgangs mit sich im virtuellen Raum steht nicht einfach schon bereit, sondern ist vom jeweiligen Selbst erst zu erproben und einzuüben. Das erfordert seine ganze Aufmerksamkeit und eine asketische Arbeit am virtuellen Maß , um den Umfang an Bewegung im virtuellen Raum ausfindig zu machen, der ihm zuträglich oder gar förderlich ist. Virtuos ist das Selbst, das im virtuellen Raum zügig unter Möglichkeiten zu wählen versteht, sich auf die gewählten Möglichkeiten konzentriert und den verpassten Möglichkeiten nicht allzu lange nachtrauert. Eine verlässliche alltägliche Wirklichkeit ist dem maßvollen Umgang mit virtuellen Möglichkeiten förderlich. Daher kommt es darauf an, dem Raum des Alltags, seiner Zeiteinteilung, seinen Gewohnheiten die Bedeutung zuzumessen, die dem formlosen virtuellen Raum und seiner unstrukturierten Zeit einen haltenden Rahmen bieten kann. Als misslich erweist sich die notorische Unwohnlichkeit, die sich im Umfeld der Maschinen der Informationstechnologien regelmäßig breit macht: ein Signum dafür, dass die äußere Welt denjenigen, die in die innere Welt des Internet eintauchen, unerheblich erscheint; ein Beleg dafür, dass es sich bei der virtuellen Welt um einen neuerlichen Triumph des Cartesianismus handelt – alle Informationstechnologie ist eine Erscheinungsform der res cogitans , des reinen Denkens, für das die Umwelt
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