Mit sich selbst befreundet sein
aller Welt verkehrt, während er sie durchquert. Grenzenlose Kommunikation : Das ist der Gewinn der virtuellen Welt. Ganz bei sich zu sein und zugleich aus sich herauszugehen: In Transiträumen wie auch am definierten Ort des Wohnens begünstigen E-Mail und Internet die Lebensweise eines stoischen Rückzugs in sich selbst, während die Kommunikation mit aller Welt aufrechterhalten werden kann. Die elektronische Post erweist sich als das ideale Mittlere zwischen Brief und Telefongespräch, zwischen der Mühe, die es macht, per Hand oder Maschine eine Seite zu füllen, und der Leichtigkeit, mit der etwas »nur mal schnell durchgerufen« wird. Sie geht leicht von der Hand, abersie bricht nicht unvermittelt und zur Unzeit in die Welt eines anderen ein wie das Telefonat, das zur spontanen Reaktion nötigt, jetzt, plötzlich, ohne Verzug. So ist eine Form der Kommunikation entstanden, die den Raum lichtschnell durchquert und die Beteiligten in ihrer Zeiteinteilung dennoch frei sein lässt: Der virtuelle Briefkasten wird geöffnet, wann immer es passt. Und doch ist der unbestreitbare Gewinn erneut mit einem unwiederbringlichen Verlust verbunden: Anders als der Brief, der mit charakteristischer Schrifttype oder Handschrift abgefasst ist, kennt die E-Mail nur das standardisierte Schriftbild, das auf dem jeweiligen Bildschirm erscheint; ein Verlust des Persönlichen in der unscheinbaren äußeren Form. Was bleibt, ist die nackte Information und Kommunikation, ohne Sinnlichkeit des vom Absender ausgewählten Papiers, dessen haptische Qualität, dessen Duft. Der Blick fällt auf keine exotische Briefmarke mehr. Woher die Mail kommt, ist ihr äußerlich nicht anzumerken. Niemand ahnt, unter welchen Umständen sie geschrieben worden ist. Sie transportiert keine Spuren außer denen der Sprache selbst, die aber in der Eile der Kommunikation kaum wahrgenommen werden.
Während bei einem Brief jede Aussage überlegt und in Gedanken erprobt wird, verführt die Leichtigkeit, mit der die E-Mail geschrieben werden kann, zum Leichtsinn, zum unüberlegten Ausdruck, zu einer Direktheit ohne Rücksicht auf den Adressaten, zu einem rasch hingeworfenen Text, dessen Flüchtigkeit vom Empfänger nicht als Wertschätzung seiner Person begriffen werden kann. In verschiedener Hinsicht werden im elektronischen Verkehr Grenzen der Kommunikation erfahrbar, die das Selbst auf neue Weise zurückwerfen auf sich selbst: Besteht das Leben etwa darin, mit wachsenden Fluten der elektronischen Korrespondenz fertig zu werden? Eine Standardisierung von Antworten liegt nahe, mithilfe selbst lernender Systeme, die die Effizienz der E-Mail-Bearbeitung steigern – bis zum gehobenen Anrufbeantwortereffekt, dass nur noch Maschinen kommunizieren.Erschwert wird die Kommunikation ausgerechnet durch ihre Erleichterung; von ihrer Beschleunigung wird sie zum Stillstand gebracht. Gerade in der Konsequenz ihres Gebrauchs ist sie anfällig für ihre Zersetzung: Technische Zersetzung aufgrund der Anfälligkeit für »Viren«, die mit jeder E-Mail, wie mit jedem Atemzug in der realen Welt, aber ungleich epidemischer, in die Welt des Selbst eindringen können. Menschliche Zersetzung aufgrund der Gewissheit, dass, anders als beim Brief, jede private Kommunikation im Zweifelsfall öffentlich ist. Geschichtliche Zersetzung, denn eine künftige Zeit wird sich fragen, warum die Menschen der elektronischen Epoche so wenig miteinander kommunizierten: Alles wird gespeichert, nichts davon wird aufbewahrt; die Zeit der Briefsammlungen ist unwiderruflich dahin.
Die Cyberhaftigkeit des Lebens kann mit dessen überkommener Zauberhaftigkeit nicht konkurrieren und ist doch nicht zu umgehen. E-Life , elektronisches Leben , ist der Alltag des Menschen im 21. Jahrhundert. Es erfordert, sich im virtuellen Raum bewegen zu lernen, der dem Selbst als zweidimensionale Fläche des Bildschirms entgegentritt, hinter dem dennoch ein vierdimensionaler Raum der Vernetzung sich aufspannt, bevölkert von Menschen, ihren Beziehungen und Machtverhältnissen. Das elektronische Netz kann dazu dienen, das Netz der persönlichen Beziehungen im engeren und weiteren Umkreis und letztlich planetenweit zu knüpfen und zu pflegen. Die unter diesen Vorzeichen entstehende Weltgesellschaft ist die umfassendste Polis , die es je gegeben hat; ihr Marktplatz ist das Internet. Will das Selbst sich in Gesellschaft begeben, muss es sich mit diesem Marktplatz vertraut machen, auf dem in jedem Moment, ohne auch nur einen realen
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