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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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sich das vorstellen? Sobald Jurij Jefimowitsch den Blutdruckmesser herausholte, kam er zu mir gestürzt und begann zu jammern wie ein kleines Kind. Jetzt, da er erwachsen ist, läuft er nicht mehr davon, er erträgt den Anblick des Gerätes mit Würde, aber man sieht seinen Augen an, daß ihm unwohl ist. Er sitzt da, schaut Jurij Jefimowitsch an und leidet stumme Qualen. Was soll man sagen. Sie waren Familienmitglieder, wir haben sie geliebt wie unsere Kinder.«
    »Jurij Jefimowitsch war wahrscheinlich ein sehr guter, weichherziger Mensch.«
    »Ja, er war ein guter Mensch. Einen besseren als ihn habe ich nie im Leben getroffen. Aber weichherzig . . .« Klawdija Nikiforowna sah Korotkow mit einem seltsamen Blick an, »weichherzig würde ich ihn nicht nennen.«
    »Warum? War er unnachgiebig, starrsinnig?«
    »Das ist schwer zu erklären. Ich habe es einfach so empfunden. Wenn Sie mich nach einem Beispiel fragen würden, das zeigt, daß er kein weichherziger Mensch war, dann würde mir wahrscheinlich keines einfallen. Aber innerlich hatte ich immer diese Empfindung. Er war gut, aber hart.«
    »Trotzdem, Klawdija Nikiforowna, warum hatten Sie diese Empfindung? Das ist eine sehr wichtige Frage für mich, bitte verstehen Sie das. Nur wenn ich mehr über den Charakter Ihres Mannes erfahre, kann ich mir eine Vorstellung davon machen, was er getan haben könnte, das zu seiner Ermordung geführt hat. Wem er im Weg gestanden haben könnte, wer sich vielleicht an ihm rächen oder eine Rechnung mit ihm begleichen wollte. Bitte, Klawdija Nikiforowna, ich bitte Sie. Ich verstehe Ihren Schmerz, ich verstehe, daß es Ihnen schwerfällt, über Ihren Mann zu sprechen, aber Sie müssen es tun. Werden Sie mir helfen?«
    4
    Lena Russanowa sah Hauptmann Lesnikow verwirrt an und schwieg. Warum stellte ihr dieser schöne, strenge Milizionär Fragen nach Dima? Was hatte er sich zuschulden kommen lassen? Was war mit ihm passiert?
    »Lena, Ihr Schweigen nützt Ihnen nichts. Platonows Frau hat uns gesagt, daß Dmitrij in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag nicht zu Hause war. Ihr Bruder ist überzeugt davon, daß er bei Ihnen übernachtet hat. Ist das wahr?«
    »Was geht das Sie an?« entgegnete Lena ungehalten. »Auch wenn er bei mir gewesen sein sollte – was würde das ändern? Was wollen Sie von mir?«
    »Sie verhalten sich nicht richtig«, sagte Lesnikow sanft. »Dmitrij ist am Donnerstag morgen zur Arbeit gekommen, aber im Laufe des Tages ist er wieder gegangen, ohne jemandem Bescheid zu sagen, und wir wissen bis jetzt nicht, wo er ist. Offenbar ist etwas passiert, das ihn gezwungen hat, seinen Arbeitsplatz zu verlassen und irgendwo unterzutauchen. Entweder ist das, was ihn zu diesem Schritt bewogen hat, am Donnerstag vormittag vorgefallen, oder schon am Mittwoch. Und wenn er am Mittwoch bei Ihnen war, dann könnte es ja sein, daß er Ihnen etwas erzählt oder zumindest irgendeine Bemerkung gemacht hat.«
    »Er hat mir überhaupt nichts erzählt. Er erzählt mir nie etwas über seine Arbeit. Als wenn Sie das nicht wüßten! Mein Bruder ist genauso, läßt nie ein Sterbenswörtchen über diese Dinge fallen.«
    »Und worüber haben Sie an diesem Abend mit Dmitrij gesprochen?«
    »Das geht Sie nichts an. Jedenfalls nicht über die Arbeit.«
    »Sagen Sie«, Lesnikow wechselte unvermittelt das Thema, »hat Dmitrij viel gelesen?«
    »Ob er viel gelesen hat?« Lena geriet leicht ins Stottern. »Was für eine seltsame Frage.«
    »Trotzdem. . .«
    »Nun ja . . . nein, ich glaube nicht. Er hat keine Zeit zum Lesen.«
    »Woher wissen Sie das? Haben sie ihn jemals danach gefragt?«
    »Nein, wozu, das war offensichtlich.«
    »Wieso war es offensichtlich?«
    »Wenn ich zum Beispiel von irgendeinem bekannten Autor zu sprechen begann, merkte ich an seiner Reaktion, daß er zum ersten Mal von ihm hörte.«
    »Hat Sie das nicht gestört? Verzeihen Sie, Lena, Sie studieren immerhin Musik, Sie stehen der Kunst nahe, wahrscheinlich haben Sie gewisse Ansprüche an die Bildung eines Menschen, und Dmitrij konnte diese Ansprüche wohl kaum erfüllen. Hat Ihnen das nichts ausgemacht?«
    »Sie reden Unsinn«, erwiderte sie verärgert und etwas hochmütig. »Der Wert eines Menschen bemißt sich nicht danach, wie viele Bücher er gelesen hat, sondern danach, wie er sich anderen Menschen gegenüber verhält. Ja, Dima kennt die Vierzeiler von Guberman nicht, er hat noch nie ein Stück von Tennessee Williams gesehen und noch nie eine Komposition von der Gubajdulina

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