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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Marinina
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gehört, aber er hat Achtung vor den Menschen und erniedrigt sie nicht. Er spricht so gut wie nie schlecht über andere.«
    »Haben Sie gemeinsame Freunde?« erkundigte sich Lesnikow unschuldig. Das Mädchen reagierte zwar patzig, aber nicht etwa deshalb, weil es von Natur aus so war, sondern aus Verwirrung und Angst, und es würde Lesnikow keine große Mühe kosten, sie zum Sprechen zu bringen. Er mußte es nur so machen, daß sie seine Taktik nicht bemerkte.
    »Nein.« Lena schwieg eine Weile und senkte ihren Blick. »Wir sind nie zusammen ausgegangen, wir waren einander genug, wir brauchten die anderen nicht.«
    »Und über welche anderen hat Dmitrij dann mit Ihnen gesprochen? Sie haben eben gesagt, daß er Menschen nie erniedrigt und nie schlecht von ihnen gesprochen hat. Wen meinen Sie damit?«
    »Niemand bestimmten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Manchmal erzählte er mir von Leuten, die ich nicht kenne.«
    »Zum Beispiel?«
    »Zum Beispiel war er am vergangenen Mittwoch sehr traurig und sagte, daß ein sehr guter, edler Mensch gestorben sei. Er bat mich, ihm einen Wodka einzugießen, weil er auf sein Gedenken trinken wollte. Wissen Sie, ich hatte den Eindruck, daß er den Tränen nahe war. Sicher, über Tote spricht man nie schlecht, aber Dima hat ja nicht bei einem Leichenschmaus auf sein Gedenken getrunken, sondern ganz für sich allein, und das bedeutet. . .«
    Sie geriet erneut ins Stottern und verstummte. Igor durchbrach das Schweigen nicht, er wollte das Mädchen nicht verschrecken, denn es war ihm klar, daß er in diesem Moment die wichtigste Information des Abends bekommen hatte.
    »Mein Gott, wie schlecht ich formuliere«, sagte sie seufzend. »Verstehen Sie, was ich sagen wollte?«
    »Ich glaube ja«, antwortete Lesnikow vorsichtig. »Sie wollten sagen, daß es so etwas wie eine moralische Verpflichtung gibt und daß viele von uns diese Verpflichtung sehr geschickt vor den Augen und Ohren anderer erfüllen, aber daß nur wenige dieser Pflicht nachkommen, wenn sie allein sind, wenn sie dabei niemand sieht. Außerdem ist Dmitrij wahrscheinlich zu tiefer Bindung und echter Freundschaft fähig, was auch nicht vielen von uns gegeben ist. Ist es so?«
    »Ja, ja, genau so ist es«, bestätigte das Mädchen hastig. »Aber wenn er, wie Sie sagen, verschwunden ist, dann verstehe ich nicht, wie Ihnen das Wissen um seine Fähigkeit zu tiefer Bindung dabei helfen sollte, ihn zu finden. Ich habe Ihnen Dinge gesagt, die ich nicht sagen wollte, Sie haben mich ausgetrickst, das ist unredlich. Gehen Sie bitte, ich möchte nicht länger mit Ihnen sprechen.«
    »Gut, Lena, ich werde gehen, aber vielleicht sagen Sie mir vorher noch, wer der Mensch war, der gestorben ist und auf dessen Gedenken Dmitrij getrunken hat.«
    Lena erhob sich vom Sofa und richtete sich zu ihrer ganzen, nicht allzu großen Körperlänge auf. In ihren Augen funkelte der Zorn, ihre Lippen waren blaß geworden.
    »Ihr Verhalten ist unverschämt, hören Sie, unverschämt! Sie zwingen mich, Ihnen Dinge zu erzählen, die nur für mich bestimmt sind. Sie zwingen mich, Dima zu verraten. Ja, Sie haben mich übertölpelt, und ich habe angefangen, mich auf ein vertrauliches Gespräch mit Ihnen einzulassen, aber ich bereue das. Sie würgen mich an der Gurgel und verlangen . . .« Der Zorn nahm ihr die Luft, sie schien den Tränen nah zu sein. »Verlassen Sie sofort meine Wohnung!«
    Schon an der Tür drehte Igor Lesnikow sich noch einmal um.
    »Lena, ich möchte nicht, daß Sie mich für einen Lumpen halten, deshalb sage ich es Ihnen gleich: wenn Sie nicht mit mir sprechen wollen, werde ich Ihren Bruder bitten, Ihnen dieselben Fragen noch einmal zu stellen. Ihm werden Sie letztlich antworten müssen. Sie sollen hinterher nicht sagen können, ich hätte Sie ausgetrickst und Sergej auf Sie gehetzt, damit er irgendwelche Geheimnisse aus Ihnen herauslockt. Deshalb setze ich Sie davon ganz offen in Kenntnis.«
    »Wozu?« fragte sie kalt, wieder ganz im Besitz ihrer Selbstbeherrschung. »Spielen Sie den Edelmütigen?«
    »Nicht ich spiele, sondern Sie, und zwar nicht die Edelmütige, sondern auf der Geige. Ich versuche nur, Ihren Freund Platonow zu retten. Und wenn es Ihnen gefällt, mich dabei zu behindern, so habe ich persönlich keinen Gewinn davon. Alles Gute!«

SECHSTES KAPITEL
    1
    Das Telefon im Büro des Untersuchungsführers Kasanzew bei der Bezirksstaatsanwaltschaft klingelte genau in dem Moment, in dem er sich der sündigen Liebe mit einer jungen

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