Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
Auswahl» des Empfängers
Was zwischenmenschliche Kommunikation so kompliziert macht, ist: Der Empfänger hat prinzipiell die freie Auswahl, auf welche Seite der Nachricht er reagieren will. Ein Alltagsbeispiel aus einer Schule: Der Lehrer geht den Flur entlang und will in das Klassenzimmer. Da kommt ihm die elfjährige Astrid entgegen und sagt (s. Abb. 14): «Herr Lehrer, die Resi hat ihren Atlas einfach in die Ecke gepfeffert!»
Abb. 14:
Astrid und der Lehrer. Auf welche der vier Seiten der Nachricht wird der Lehrer reagieren?
Wie reagiert der Lehrer? In Lehrertrainingskursen habe ich charakteristische Unterschiede beobachtet:
Manche Lehrer reagieren auf den Sachinhalt: «Und hat sie das mit Absicht getan?» (Nimmt die Sachinformation zur Kenntnis und bittet um weitere Sachinformationen.)
Manche Lehrer reagieren auf die Selbstoffenbarung Astrids: «Du bist ganz schön böse darüber, Astrid?» – Oder: «Du bist ja eine Petzliese!»
Einige Lehrer reagieren auf die Beziehungsseite: «Warum erzählst du mir das? Ich bin doch nicht euer Polizist!» – Oder: «Ich freue mich, dass du zu mir Vertrauen hast …»
Die meisten Lehrer reagieren appellhaft: «Ich werde gleich mal sehen, was da los ist!»
Kommen wir noch einmal zurück auf unser Auto-Beispiel (s. Abb. 3, S. 28). «Du, da vorne ist grün!», hatte der Mann gesagt. Angenommen, die Frau antwortet etwas ungehalten: «Fährst du oder fahre ich?» – Dies wäre eine Beziehungs-Reaktion: Sie wehrt sich damit gegen die Bevormundung, die sie auf der Beziehungsseite der Nachricht spürt.
Sie hätte aber auf den Sachinhalt (z.B. «Ja, hier ist grüne Welle, das ist ganz angenehm») oder auf die Selbstoffenbarung (z.B. «Du hast es eilig?») oder den Appell (z.B. durch Gas geben) reagieren können.
Diese freie Auswahl des Empfängers führt zu manchen Störungen – etwa dann, wenn der Empfänger auf eine Seite Bezug nimmt, auf die der Sender das Gewicht nicht legen wollte. Oder wenn der Empfänger überwiegend nur mit einem Ohr hört, und damit taub ist (oder sich taub stellt) für alle Botschaften, die sonst noch ankommen. Die ausgewogene «Vierohrigkeit» sollte zur kommunikationspsychologischen Grundausrüstung des Empfängers gehören. Von Situation zu Situation ist dann zu entscheiden, auf welche Seite(n) zu reagieren ist.
2.
Einseitige Empfangsgewohnheiten
Bei vielen Empfängern ist – unabhängig von den Situationserfordernissen – ein Ohr auf Kosten der anderen besonders gut ausgebildet. Betrachten wir im Folgenden die einzelnen «Ohren» und welche Folgen ihre einseitige Spezialisierung mit sich bringt.
2.1
Das «Sach-Ohr»
Viele Empfänger (vor allem Männer und Akademiker) sind darauf geeicht, sich auf die Sachseite der Nachricht zu stürzen und das Heil in der Sachauseinandersetzung zu suchen. Dies erweist sich regelmäßig dann als verhängnisvoll, wenn das eigentliche Problem nicht so sehr in einer sachlichen Differenz besteht, sondern auf der zwischenmenschlichen Ebene liegt.
Abb. 15:
Der sach-ohrige Empfänger.
Das folgende Beispiel ist zwar eine Karikatur, aber im Kern gar nicht einmal so praxisfremd:
Frau: «Liebst du mich noch?»
Mann: «Ja, weißt du, da müssten wir erst einmal den Begriff ‹Liebe› definieren, da kann man ja nun sehr viel drunter verstehen …»
Frau: «Ich mein doch nur, welche Gefühle du mir gegenüber hast …»
Mann: «Nun, Gefühle – das sind ja zeit-variable Phänomene, darüber gibt es keine generellen Aussagen …» usw.
Beide reden aneinander vorbei. Weniger offensichtlich ist dies in Situationen, wo beide darangehen, ein Beziehungsproblem mit Sachargumenten auszufechten. Da es sich hier um einen verbreiteten Kardinalfehler in der zwischenmenschlichen Kommunikation handelt, soll er an einem Beispiel ausführlich besprochen werden:
Die Mutter und die Tochter . Tochter, 16 Jahre, schickt sich an, die Wohnung zu verlassen, um sich mit Freunden zu treffen. Es ergibt sich folgender Dialog (s. Abb. 16):
Abb. 16:
Die Mutter und die Tochter.
Mutter: «Und zieh dir ’ne Jacke über, ja! – Es ist kalt draußen.»
Tochter (in etwas «patzigem» Tonfall): «Warum denn? Ist doch gar nicht kalt!»
Die Mutter ist nun ein bisschen ärgerlich; nicht nur über den patzigen Ton, sondern auch über so viel Unvernunft der Tochter, und ist mehr denn je davon überzeugt, dass sie dafür sorgen muss, dass sich die Tochter vernünftig verhält:
Mutter: «Aber Moni, wir haben
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