Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
einer bin ich also!» Ich werde später zeigen, dass das Selbstkonzept eines Menschen (also das Bild, was er von sich selber hat) ein Produkt von frühen Beziehungsbotschaften darstellt. Ein älteres Kind hat unter Umständen die Fähigkeit, mit «diagnostischem» Ohr zu hören: «Er muss einen schlechten Tag im Büro gehabt haben, dass er seine Wut so an mir auslässt.» Dieses Kind nimmt die wütende Nachricht des Vaters nicht auf seine Kappe, sondern bucht sie sozusagen auf der Selbstoffenbarungsseite ab. Die automatische Schlussfolgerung «So einer bin ich also» ist hier außer Kraft gesetzt und ersetzt durch «So einer bist du also!»
Abb. 21:
Die betroffene und die diagnostizierende Empfangsweise auf eine persönliche Anklage.
Es wäre viel gewonnen, wenn wir die gefühlsmäßigen Ausbrüche, die Anklagen und Vorwürfe unserer Mitmenschen mehr mit dem Selbstoffenbarungs-Ohr zu empfangen in der Lage wären. Dann könnten wir dem anderen eher seine Gefühle zugestehen, könnten uns ruhig darauf einlassen, ohne gleich in große Sorge um unsere «weiße Weste» und um unser seelisches Heil zu geraten. Wir wären weniger mit unserer eigenen Rehabilitation beschäftigt und könnten stattdessen besser zuhören und so besser dahinterkommen, was mit dem anderen wirklich los ist.
Die Kehrseite: Immunisierung durch das (ausschließlich) diagnostische Ohr. Freilich enthält die soeben empfohlene Empfangsweise auch eine Gefahr: ins gegensätzliche Extrem zu verfallen und gar nichts mehr an sich herankommen zu lassen. Angenommen, jemand gibt mir eine Rückmeldung (Feedback), wie ich auf ihn wirke. Höre ich das Feedback nur mit dem Beziehungs-Ohr, dann bin ich den Urteilen meiner Mitmenschen über mich ziemlich ausgeliefert: Automatisch fühle ich mich getroffen und übernehme das Urteil in mein Selbstbild («So einer bin ich also»). Wie erwähnt, verhilft ein zusätzlich gespitztes Selbstoffenbarungs-Ohr zu der Möglichkeit, das Feedback auch als eine Selbstoffenbarung des Feedback-Spenders anzusehen. Manche Menschen tun hier des Guten zu viel und haben es sich angewöhnt, ausschließlich mit diesem Ohr zu hören: «Was muss das für ein Mensch sein, dass er zu einer solchen Meinung über mich gelangt!?» Psychoanalytisch orientierte Therapeuten alter Schule pflegen diese Empfangsweise. Angenommen, der Klient greift ihn aufgebracht an und sagt: «Sie sind ein Schuft, Sie lassen mich hier hängen!» – dann stellt sich der Therapeut auf dem Beziehungs- und Appell-Ohr taub und reagiert in dem Sinne: «Ich glaube, wir müssen doch noch einmal Ihre Vater-Problematik gut durcharbeiten, die Sie im Augenblick auf mich übertragen.»
Ein Beispiel aus Tolstois «Anna Karenina»: «‹Entschuldigen Sie mich, Doktor – aber das kann wirklich zu nichts führen. Sie stellen mir dieselben Fragen nun schon zum dritten Mal.› Der berühmte Arzt nahm die Bemerkung keineswegs übel. ‹Krankhafte Erregung›, sagte er zu der Fürstin, als Kitty hinausgegangen war. ‹Im Übrigen habe ich mir mein Urteil gebildet …›»
Im Extrem kann sich der Empfänger durch die ausschließliche Benutzung des Selbstoffenbarungs-Ohres jede Betroffenheit ersparen. Was in der richtigen Balance das Zuhören und eine konstruktive Kommunikation fördert, verkommt im Extrem zu einer Oberhand-Technik, die den anderen nicht als Partner ernst nimmt, sondern als zu diagnostizierendes Objekt herabwürdigt – nach der Devise: Wer auf mich böse ist oder anderer Meinung ist als ich, offenbart damit sein krankes Hirn.
Psychologisieren. Ein ähnlicher Missbrauch des (ausschließlichen) Selbstoffenbarungs-Ohres stellt das Psychologisieren dar. Damit ist gemeint: Eine Sachaussage nur danach zu untersuchen und zu «entlarven», welcher psychische Motor als treibende Kraft dahintersteckt («das sagst du ja nur, weil du …») – und zwar ohne das Gesagte sachlich zu würdigen. Angenommen, jemand kritisiert das kapitalistische Wirtschaftssystem. Eine psychologisierende Reaktion darauf wäre etwa die folgende: «Mit dieser Kritik offenbaren Sie im Grunde nur, dass Sie nach einer verwöhnten Kindheit jetzt nicht damit fertig werden, dass das Leben nicht nur Schlaraffenland ist. Weil Sie persönlich nicht klarkommen, suchen Sie die Schuld am System!» – Zwar ist es richtig, dass jede sachliche Kritik auch eine Selbstoffenbarung des Senders enthält. Dies berechtigt aber nicht, solche Kritik ausschließlich mit dem Selbstoffenbarungs-Ohr zu hören und in
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