Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Titel: Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
Vom Netzwerk:
therapeutischen Aufarbeitung persönlicher Probleme widmet. So geschah es in jüngster Zeit in einigen studentischen Gruppen, als die gruppendynamischen Lernverfahren aufkamen. Die durch den ständigen Sachappell jahrelang unterdrückte Emotionalität brach nun auf und ließ das Pendel ganz auf die andere Seite schwingen. Es war, als ob nach langem Stau eine emotionale Schleusenöffnung zu einer wahren Überschwemmung an zwischenmenschlicher Thematik führte. Hier ist es wiederum das Verdienst von Ruth Cohn, den Weg zwischen Szylla und Charybdis gewiesen zu haben: Szylla zieht uns hoch auf die abgehobene, abstrakte Ebene des unpersönlichen Darüberredens und Theoretisierens – Charybdis dagegen zieht uns hinab in den Tiefgang der persönlich-emotionalen Selbsterfahrung. In ihrem «themenzentrierten interaktionellen System» (TZI) ist es die Aufgabe des Leiters (und dann auch der Gruppe), drei Komponenten des Geschehens gleich wichtig zu nehmen und entsprechend auszubalancieren:

     
das ES (die Sache , das Thema, die gemeinsame Aufgabe),
das ICH (der Einzelne in der Gruppe mit seinen Gefühlen, persönlichen Möglichkeiten und Störungen),
das WIR (die Gruppe mit ihrem Beziehungsnetz und ihren Interaktionen) – s. Abb. 45.

    Abb. 45:
    Drei auszubalancierende Komponenten des Geschehens in Lern- und Arbeitsgruppen nach dem themenzentrierten interaktionellen System von Ruth Cohn (1975).
    1.3
    Getrenntheit von Sach- und Beziehungsebene im täglichen Leben
    Das zusammengesetzte Dreieck enthält mehr Weisheit als nur den Balancegedanken für die Leitung von Gruppen. Indem es auf die urtümliche Zusammengehörigkeit von Sach- und Beziehungsebene verweist, macht es uns die Getrenntheit dieser beiden Aspekte in unserem Leben bewusst. Das Dreieck ist zerschnitten (Abb. 46): Wir leben in einer Arbeitswelt, in der Sachzwänge regieren und wo der Einzelne und die Art des Miteinanders nicht zählen. Und wenn sie zählen, dann häufig nur im Hinblick auf ihre Funktionalität für die Sacheffektivität. So kümmert man sich um «Human Relations» dort, wo man sich von einer stärkeren Betonung der Mitmenschlichkeit eine Effektivitätssteigerung verspricht (s. S. 236ff.). Aber der Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen und der Gestaltung der mitmenschlichen Beziehung wird kein Eigenwert zuerkannt.

    Abb. 46:
    Die Spaltung von Sach- und Beziehungsebene in der heutigen Zeit.
    Umso stärker nun der Wunsch, diese Mangelerlebnisse in einer Privatwelt auszugleichen, die für alle Ich-Wir-Wünsche aufkommen soll. Geborgenheit, Intimität, Lebensfreude, zwischenmenschliche Auseinandersetzungen, Bewältigung der Frage nach dem Sinn des Seins. Aber wie die Arbeitswelt ein Sach-Torso ist, abgeschnitten von der Ich-Wir-Basis des Dreiecks, so ist die private und die Psycho-Welt tendenziell ein Beziehungs-Torso, bei dem die Spitze des Dreiecks fehlt . Durch das Fehlen eines gemeinsamen Themas, einer gemeinsamen Sache, sind wir auf merkwürdige Weise voneinander getrennt, wie intim auch unsere Beziehungen sein mögen. Heik Portele (1978) hat in seinem Aufsatz «Lob der dritten Sache», ausgehend von einem Gedicht Bertolt Brechts mit gleichem Titel, interessante Mutmaßungen darüber angestellt, welche Qualitäten diese dritte gemeinsame Sache aufweisen muss, um für solidarische Beziehungen ein tragfähiges Fundament abzugeben. Einige seiner Thesen fasse ich wie folgt zusammen:

     
«Kleinere» dritte Sachen (z.B. gemeinsames Essen-Kochen in einer Wohngemeinschaft) sind auf Dauer ebenso wenig tragfähig wie «große» Ziele oder Ideen. Eher eignen sich konkrete Kooperationen mit erkennbarem und identitätsrelevantem Produkt.
«Negative» dritte Sachen, die im Protest gegen etwas bestehen (z.B. gegen Atomkraft), eignen sich (wegen ihres aufgezwungenen und nicht freiwilligen Charakters) weniger gut.
Bestimmte gesellschaftliche Mechanismen verhindern das Suchen und Finden einer dritten Sache (z.B. Organisation der Arbeit).
Beziehungsprobleme (zwischen Paaren, in Schulklassen) haben ihre fundamentale Ursache im Fehlen einer dritten Sache.
Ein psychologisierendes Arbeiten auf der Beziehungsebene (Paartherapie, gruppendynamisch-therapeutische Veranstaltungen) ist aussichtslos und verhängnisvoll, solange es nicht in Verbindung mit dem Aufbau einer dritten Sache geschieht.
Das Prinzip der dritten Sache kann manipulativ missbraucht werden. Humanistische Psychologie kann mir helfen, meine wirklichen, «ureigensten» Anliegen zu entdecken und

Weitere Kostenlose Bücher