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Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation

Titel: Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedemann Schulz von Thun
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die Gruppe unterminieren; unausgesprochen und unterdrückt bestimmen sie Vorgänge in Schulklassen, in Vorständen, in Regierungen. Verhandlungen und Unterricht kommen auf falsche Bahnen oder drehen sich im Kreis. Leute sitzen am Pult und am grünen Tisch in körperlicher Gegenwart und innerer Abwesenheit. Entscheidungen entstehen dann nicht auf der Basis von realen Überlegungen, sondern unterliegen der Diktatur der Störungen – Antipathien zwischen den Teilnehmern, unausgesprochenen Interessen und persönlichen depressiven und angstvollen Gemütsverfassungen. Die Resultate sind dementsprechend geist- und sinnlos und oft destruktiv.
 
Die unpersönlichen ‹störungsfreien› Klassenzimmer, Hörsäle, Fabrikräume, Konferenzzimmer sind dann angefüllt mit apathischen und unterwürfigen oder mit verzweifelten und rebellierenden Menschen, deren Frustration zur Zerstörung ihrer selbst oder ihrer Institutionen führt.
 
Das Postulat, daß Störungen und leidenschaftliche Gefühle den Vorrang haben, bedeutet, daß wir die Wirklichkeit des Menschen anerkennen; und diese enthält die Tatsache, daß unsere lebendigen, gefühlsbewegten Körper und Seelen Träger unserer Gedanken und Handlungen sind. Wenn diese Träger wanken, sind unsere Handlungen und Gedanken so unsicher wie ihre Grundlagen.»
    Und an einer anderen Stelle (S. 184):
«Die unwahrscheinliche Anzahl von kleinen Verstimmungen, die aus irgendeinem Grunde nicht gesagt werden und sich zu Schützengräben und Festungswällen verfestigen, durch die Menschen, Beziehungen und Arbeit leiden, ist auch geübten Gruppenleitern immer wieder ein fast unglaubliches Erlebnis.
 
Wie werden solche positiven und negativen Störungen im allgemeinen in Gremien und Klassenzimmern und anderen Gruppen behandelt? Was tun die Teilnehmer? 1. Sie täuschen Aufmerksamkeit vor, die nicht da ist. 2. Sie zwingen sich zu einer Aufmerksamkeit, die nur von einem Bruchteil ihrer Energien gespeist wird, weil diese in starken Emotionen gebunden ist. 3. Die unterdrückten Emotionen schleichen sich meist auf Nebenwegen als Fehlerquelle in Entscheidungen und Gedankengänge ein.»
    In Trainingskursen mit Arbeitsgruppen (z.B. Lehrerkollegien oder Abteilungen in einem Unternehmen) versuchen wir, eine solche Metakommunikation behutsam einzuführen und Rüstzeug dafür anzubieten. Dabei ist den Teilnehmern anfangs die Einsicht schwer, dass «so viel Persönliches» das «Sachliche» nicht nur nicht völlig torpedieren, sondern sogar noch fördern soll! Die Angst: Was kann da nicht alles «aufbrechen» – und kostet es nicht viel zu viel Zeit? Ruth Cohn sagt manchmal: «Wir haben wenig Zeit, deshalb müssen wir langsam vorgehen …!» – Die heimliche Dauer-Überfrachtung der Sachseite mit unbearbeiteten Anteilen aus dem Bereich der Selbstoffenbarung und Beziehung kostet langfristig nicht nur mehr Zeit, sondern auch mehr seelische Energie; die investierte Zeit zur Entfrachtung gibt es mit Zins und Zinseszins zurück.
    Aber es gibt auch Gefahren. Ich weiß aus meiner eigenen Lebensgeschichte, wie ungewohnt und bedrohlich ein solcher (persönlichzwischenmenschlich-sachlicher) Kommunikationsstil sein kann. Aufgewachsen nach dem Leitgedanken der ersten Strategie, haben viele es nicht gelernt, über ihre inneren Vorgänge zu sprechen und gefühlsmäßige Aspekte der zwischenmenschlichen Beziehungen auszudrücken. So liegt das «Heimspiel» vieler Menschen auf der Sach-Ebene, auf der sie sich mit ihrem ausgebildeten Verstand und ihrer guten Sprachfähigkeit auskennen und wohlfühlen. Für sie ist die Selbstoffenbarungs- und Beziehungsebene ein dünnes Glatteis. Es wäre verfehlt, ihnen von heute auf morgen einen ganz neuen Stil abzuverlangen. Echter Fortschritt vollzieht sich im Schneckentempo, in kleinen, d.h. verkraftbaren Schritten. Bei behutsamer Einführung konnten sich viele Teilnehmer unserer Trainingskurse mit der neuen Norm bald anfreunden und bekamen Mut, das «Auswärtsspiel» zu riskieren. Sie erkannten oder ahnten, dass hier die Chance bestand, unterentwickelte Bereiche der Persönlichkeit wachsen zu lassen. Wachstum ist nur in «Auswärtsspielen» möglich («Auswärtsspiele» = Spiel auf Feldern, auf denen ich nicht trainiert habe, wo mir der Beifall nicht sicher ist und ich eine Niederlage riskiere).
    Eine andere Gefahr der zweiten Strategie besteht darin, dass die Arbeits-/Lerngruppe ihre Sachziele aus dem Auge verliert und sich nun überwiegend der Pflege ihrer Beziehungen und der

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