Miteinander reden 01 - Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation
Informationen und Argumenten, das Abwägen und Entscheiden, frei von menschlichen Gefühlen und Strebungen wie: das Gesicht wahren und recht behalten wollen, sich produzieren, rächen und rehabilitieren, sich lieb Kind machen oder es dem anderen zeigen wollen usw. Allgemein ausgedrückt: Sachlichkeit ist erreicht, wenn die Verständigung auf der Sach-Ebene weiterkommt, ohne dass die Begleitbotschaften auf den anderen drei Seiten der Nachricht störend die Oberhand gewinnen.
Tatsächlich gehört es hierzulande zu den ungeübtesten Fähigkeiten, eine Sachkontroverse ohne Feindseligkeiten und Herabsetzungen auf der Beziehungsseite zu führen: Der Meinungsgegner wird als Feind und lästiges Übel erlebt und entsprechend behandelt (vgl. Abb. 43).
Abb. 43:
Der sachliche Standpunkt verbindet sich oft mit Überheblichkeit und Feindseligkeit auf den anderen Seiten der Nachricht.
Hingegen besteht das kommunikationspsychologische Ziel darin, den eigenen Sachstandpunkt mit dem Respekt vor dem Meinungsgegner zu verbinden, beseelt von der Grundhaltung: «Ich akzeptiere und begrüße, dass jeder die Sache von seinem Standpunkt sieht, je nach seiner Lebensgeschichte und nach seinen Lebensumständen. Du bist anders als ich, ich bin anders als du – wenn wir einander zuhören und den Standpunkt des anderen als Ausgangspunkt akzeptieren, dann kann unsere Begegnung etwas zutage fördern, was reicher ist, als was jeder für sich allein mitgebracht hat.» Die sachkontroverse Nachricht sähe dann etwa so aus wie in Abb. 44.
Abb. 44:
Kommunikationspsychologische Struktur einer sachkontroversen Nachricht mit konstruktiven zwischenmenschlichen Begleitbotschaften.
Welche Mittel haben wir, um eine sachliche Auseinandersetzung zu fördern? Zwei grundsätzliche, entgegengesetzte Strategien lassen sich unterscheiden. Die eine – mehr übliche – zielt darauf ab, die unsachlichen Strebungen zu unterbinden («Das gehört nicht hierher!») – die andere Strategie will dagegen diesen Störungen sogar Vorrang geben.
1.1
Erste Strategie («Das gehört nicht hierher!»)
Üblicherweise finden wir in Lern- und Arbeitsgruppen den «Das-gehört-nicht-hierher-Standpunkt» vor. Dieser Appell zur Disziplin sucht das Unerwünschte zu unterbinden («Wir wollen doch sachlich bleiben!»). Für einen reibungslosen Schnellverkehr mag diese Methode eine zeitsparende Notlösung sein. Für eine langfristige Kooperation ist es wenig aussichtsreich, den Deckel der Sachlichkeit auf die Schlangengrube der menschlichen Gefühle zu pressen. Denn zum einen braucht eine engagierte, kreative Sachlichkeit den Aufwind positiver mitmenschlicher Beziehungen – andernfalls herrscht auch sachliche Flaute. Zum anderen lassen sich die unsachlichen Impulse gar nicht aus der (Seelen-)Welt schaffen – sie sind Teil der Realität und gehen bei offiziellem Verbot in den Untergrund und bestimmen die Kommunikation aus dem Verborgenen: Schein-sachliche Argumentiererei wird zum Vehikel persönlicher Auseinandersetzungen, überlange «sachliche» Ausführungen dienen der Selbstdarstellung und Selbstrechtfertigung – die «Sache» wird zum trojanischen Pferd einer persönlich-emotionalen Untergrundbewegung .
1.2
Zweite Strategie («Störungen haben Vorrang»)
Der Kommunikationspsychologe empfiehlt deshalb, Abschied zu nehmen von der «eingebläuten» Sach-Norm (sprich nicht von dir selbst, werde nicht persönlich, Gefühle und Empfindungen haben in einem Sachgespräch nichts zu suchen!). Er empfiehlt stattdessen den Mut zur gelegentlichen Metakommunikation mit starker Betonung der Selbstoffenbarungs- und Beziehungsseite der Nachricht: «Wie stehen wir zueinander? Was bewegt mich, Ihnen immer gleich zu widersprechen? Warum habe ich Angst, meinen wirklichen Standpunkt zu sagen? Wie fühle ich mich in dieser Gruppe (diesem Gremium) usw.?»
Ruth Cohn, deren Lebenswerk darin besteht, die Erfordernisse der Sache mit den Erfordernissen des Menschlichen und Mitmenschlichen in Einklang zu bringen, sagt es in einer kurzen Formel: «Störungen haben Vorrang.» Für Ruth Cohn fügt sich diese «Kommunikationsregel» nur der menschlichen Realität. Sie schreibt (1975, S. 122):
«Störungen haben de facto den Vorrang, ob Direktiven gegeben werden oder nicht. Störungen fragen nicht nach Erlaubnis, sie sind da: als Schmerz, als Freude, als Angst, als Zerstreutheit; die Frage ist nur, wie man sie bewältigt. Antipathien und Verstörtheiten können den einzelnen versteinern und
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