Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
vermeintlichen Schwächen (Traurigkeit, Ratlosigkeit usw.) zu, und was wohl noch entscheidender ist, ich gestehe es mir auch nicht zu, daß mir in solchen Situationen jemand hilft. Ich brauche niemanden!
Was geschieht aber, wenn ich wirklich mal jemand benötige? Ich sende meine Bedürfnisse in verdeckter Form: Beiße bis zuletzt die Zähne zusammen, werde oft körperlich krank oder verkrieche mich irgendwo und melde mich erst wieder, wenn es mir ein wenig besser geht. Natürlich hoffe ich insgeheim sehnsüchtig, daß jemand kommt und sich um mich kümmert. Aber erstens bitte ich nicht selbst direkt um Hilfe, das könnte ich nicht mit meinem Selbstbild vereinbaren, und ein Konglomerat von Ängsten hält mich davon ab. Und zweitens habe ich durch mein vorhergehendes Verhalten ein Bild von mir bei den anderen aufgebaut, so daß sie sich von mir nur schwer vorstellen können, daß ich zum Beispiel weine. Ich gebe den anderen also keine Gelegenheit, mir ihrerseits zu helfen. Obwohl ich dieses selbst inszeniert habe, ruft es in mir eine große Enttäuschung hervor, ich fühle mich ausgenutzt und trenne mich, um nicht ganz ausgesaugt zu werden, fühle mich als Opfer von dem anderen. Beschließe dann, um nicht wieder so enttäuscht zu werden, mir noch ein dickeres Fell zuzulegen – denn schließlich: Ich brauche niemanden!»
In diesen Selbstzeugnissen kommen besonders prägnant die Gefahren zum Ausdruck, die mit der helfenden Strömung für den Helfer selbst verbunden sind. Zwar erreicht er (oder sie) das Ziel ( = die Gefühle von Schwäche und Bedürftigkeit «unten» zu halten), bekommt darüber hinaus aufblickende Anerkennung und Dankbarkeit. Aber das hungrige Kind in ihm bleibt unterernährt, nach einiger Zeit fühlt er sich überanstrengt, ausgelaugt, von «Blutsaugern» umgeben («Alle wollen sie was von mir!») und als seelischer Mülleimer missbraucht. Da solche Regungen nicht ins Idealbild eines Wohltäters passen, können der innere Griesgram, der Ärger, das Gefühl von Einsamkeit trotz vieler Kontakte und die Erschöpfung häufig nur über Krankheiten ausgedrückt werden, als psychosomatische Notbremse gegen schonungslose innere Durchhalteparolen. Laut Schmidbauer gibt es Statistiken, nach denen professionelle Helfer überraschend häufig zu Suchtmitteln greifen. Das mag (auch) damit zu tun haben, dass Ärzte und Krankenhauspersonal hier besonders leichten Zugriff haben. Durchaus wahrscheinlich aber auch, dass seine psychoanalytische Erklärung zutrifft: Helfer tun sich schwer, sich jene menschliche Nähe zu «holen», nach der das hungrige Baby verlangt, also beschützende Geborgenheit und Halt im Rahmen einer auf Gegenseitigkeit begründeten Beziehung. Die Sucht ist nun der Versuch, sich ähnliche Gefühle zu «machen», aber ohne Menschen dafür zu brauchen. Die Formel Schmidbauers: Suchtmittel = «giftige Muttermilch» bringt diesen Gedanken auf einen deutlichen Nenner. Das Suchtmittel kann eingenommen werden, ohne dass man «über seinen Schatten springen» muss, und garantiert zunächst einmal Ersatzbefriedigung, allerdings um den Preis der langsamen Selbstzerstörung. Und ist vielleicht das Helfen selbst schon zu einer Art Sucht, ist aus dem Helfen-Wollen längst ein Helfen-Müssen geworden (Falt, 1988)?
2.2
Der systemische Blickwinkel
Die Verstrickung des helfenden Menschen in zwischenmenschliche Kreisläufe haben wir bereits ins Auge gefasst (S.76ff.). Umgeben von Menschen, die ihn dringend brauchen, ist sein fürsorglicher Anteil immer wieder «gefragt», sodass dieser gleichsam immer stärkere Muskeln bekommt, bei deren bloßem Anblick man sich sogleich in guten Händen fühlt. Im Umgang mit seelisch beeinträchtigten Menschen (zum Beispiel Depressiven, Alkoholabhängigen, sonstigen Suchtabhängigen) ist der Helfende immer in Gefahr, zum heimlichen Komplizen des Symptoms zu werden, zum «Symptompfleger», der es dem «Symptomträger» immer wieder erspart, sich mit den realen Folgen seines selbstzerstörerischen Verhaltens auseinanderzusetzen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dieser besonders im Zusammenhang mit Alkoholismus untersuchte und auch «Co-Verhalten» (Hambrecht, 1982) genannte Beitrag eines Helfers wirft natürlich die Frage auf, worin denn im Einzelfall eine adäquate Hilfe bzw. ihre Verweigerung besteht. Zu diesem Thema sei auf das vorzügliche Lehrbuch von Dörner und Plog (1978) verwiesen. Unser Interesse hier betrifft die Interaktionsdynamik zwischen «normalen»
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