Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
heute unter Anleitung einer sich «humanistisch» nennenden Psychologie abhandenzukommen, die stattdessen «Selbstverwirklichung» auf ihre Fahnen geschrieben hat?
Selbstbehauptung und Hingabe. Es ist die Fähigkeit zur Hingabe , die uns hier entgegentritt, und es scheint, als wäre dieser Wert in letzter Zeit etwas in Verruf gekommen. Kast (1982) berichtet, dass insbesondere Frauen mehrheitlich «allergisch» auf das Wort reagieren würden: Offenbar empfinden sie eine allzu große Nähe zu «Unterwerfung» und «Preisgabe» und somit zum Tugendkatalog für die Frau von gestern, die zu einem Bewusstsein von «Ich bin nichts und du bist HERR-lich!» erzogen wurde. Tatsächlich droht der «Hingabe» eine solche Entwertung, wenn sie nicht gepaart ist mit einer Selbst(be)achtung (nach innen) und einer entsprechenden Selbstbehauptung (nach außen), welche auch klare Grenzen und Ansprüche formuliert und so die Hingabe zu einer prinzipiell gegenseitigen Beziehungsform macht.
Mit den Worten von Kast: «Selbstbehauptung und Hingabe sind notwendige Pole menschlichen Verhaltens in der Begegnung, die sich also gegenseitig bedingen, keineswegs ausschließen. Nur wer sich selbst behaupten kann, sich abgrenzen kann, seine Gefühle und Emotionen wahrnehmen und ausdrücken kann, auch wenn sie aggressiv sind oder zumindest auf andere aggressiv wirken, kann sich auch hingeben, sich geben, sich ergreifen lassen, mit einem anderen Menschen wirklich in Kontakt kommen, ihm wirklich begegnen.» (1982, S.475)
Eine missglückte Balance von Selbstbehauptung und Hingabe kann offenbar auch psychosomatisch in Erscheinung treten, wie Beckenbauer (1988) in einer Arbeit über Frauen mit chronischer Blasenentzündung nahelegt. Eine solche Entzündung macht sexuellen Verkehr unmöglich und kann in einigen Fällen jenes selbstbehauptende «Nein» ersetzen, das die Frau sich vielleicht nicht zugesteht. Gleichzeitig fordert die Krankheit die fürsorgliche Hingabe des Partners heraus und bringt vielleicht auf diese Weise die Beziehung in eine neue Balance, freilich auf Kosten der Gesundheit.
Zweifellos hat die Humanistische Psychologie die Bedeutung des Selbstwertes stärker betont als die der Hingabe und scheint sich damit in für manche befremdlicher Weise zum Anwalt der «egoistischen» Seite des Entwicklungsquadrates zu machen. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass die persönliche Entwicklung im «Ego-Trip» steckenbleibt, wenn der dialektische Zusammenhang von Selbstachtung und Hingabe aus dem Blickfeld gerät. Gleichwohl gibt es gewichtige Gründe für die wertschätzende Betonung der «egoistischen» Seite – ich nenne ein psychologisches und ein politisches Argument:
Das psychologische Argument: Ein Mangel an mitmenschlicher Hingabefähigkeit beruht nicht auf einem zu hohen, sondern einem zu niedrigen Selbstwertgefühl. Wer an seinem Wert zweifelt, ist innerlich beschäftigt, um die Selbstwertachse zu kreisen. So bleibt wenig Kraft, für den anderen da zu sein – es sei denn, die Sorge um den Mitmenschen wird zum seelischen Instrument der Selbsterhöhung, zu einem Mittel, um Anerkennung, Dankbarkeit, moralische Überlegenheit zu erlangen. Diese Art von Hingabe und Aufopferung aber hat leicht einen Beigeschmack von demonstrativer Aufdringlichkeit und lässt dem, dem geholfen wird, kaum eine Chance zum Wachstum.
Aus diesem Grunde führt der Weg zum Gemeinschaftsgefühl nur über das entwickelte Selbstwertgefühl – dieser Zusammenhang lässt sich nicht kürzer sagen als in der Bibel: «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst !« Was hier als Appell formuliert ist, drückt eine psychologische Wahrheit aus: Du bist nur liebensfähig in dem Maße, wie du dich selbst liebst. Es scheint, als sei in der traditionellen christlichen Erziehung gleichwohl die Tugend der Selbstlosigeit überbetont und die der Selbst(be)achtung unterbetont worden, auch verbunden mit einer unseligen Verpönung von streitbarer und selbstbehauptender Aggression (Stein, 1986).
Das politische Argument: Eine Hingabebereitschaft, die nicht aus dem eigenen Wertbewusstsein heraus entsteht, ist in Gefahr, für Schädliches und Schändliches politisch missbraucht zu werden. Der Wissenschaftsjournalist Arthur Koestler, gleichzeitig in Leben und Werk ein vortrefflicher Grenzgänger zwischen Politik und Psychologie, hat in seiner Analyse der Selbstzerstörungstendenzen der Menschheit verschiedene, angeblich stammesgeschichtlich angelegte «Konstruktionsfehler» der
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