Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
Selbst-losen an seinem wunden Punkt: Die Verlustangst treibt ihn nun, sich selbst noch kleiner zu machen, es dem anderen noch mehr recht zu machen und noch mehr auf sich zu nehmen.
Der Partner bekommt daraufhin Schuldgefühle, spürt gar Verachtung und Ekel; entsprechend «eklig» verhält er sich auch und kommt in jene feind-selige Strömung hinein, die wir im nächsten Kapitel zu besprechen haben. Dadurch, dass der andere nun auf ihm herumhackt und ihn «fertigmacht», fühlt sich der Selbst-lose vollends in seiner Nichtigkeit bestätigt, duckt sich und erträgt mit der Kraft eines Märtyrers all die Gemeinheiten. Was ihn für diese Erniedrigung entschädigt, ist das Bewusstsein seiner moralischen Überlegenheit – und diese Karte spielt er auch aus, sodass der andere noch mehr Schuldgefühle bekommt («Warum bin ich bloß so gemein und gehässig gegenüber diesem lieben, guten Menschen?»), aber auch noch mehr Verachtung und Wut. – Alles fing an mit zwei Menschen wie du und ich – und am Ende dieser Polarisierung stehen sich ein selbstloser Engel und ein mieser Teufel gegenüber, ein duldsames Opfer und ein rücksichtsloser Täter.
Dieser Teufelskreis gesellt sich dem Kreislauf von S.118 hinzu, manchmal unterschwellig, oft mit spektakulärer Dramatik:
Der hier nur in sehr groben Zügen nachgezeichnete Kreislauf kann sich trotz der Gewalt und des Elends, das darin enthalten ist, in zählebiger Weise verewigen. Den Außenbetrachter lädt er dazu ein, sich mit dem armen Opfer zu identifizieren und den teuflischen Täter zu verurteilen. Dies ist bis zu einem gewissen Grade dann gerechtfertigt, wenn die Rolle des Täters, wie es oft der Fall ist, vom Manne eingenommen wird, der unter Einsatz seiner körperlichen Kraft Gewalt androht oder anwendet. Wer sich nun aufmacht, die geschlagene Frau zu retten, muss unter Umständen mit großem Widerstand rechnen, und zwar von beiden ! Die Folgerung, dass die Frau dann offenbar «masochistisch» und ihr nicht zu helfen sei, ist ein naheliegender Kurzschluss, der eher der Enttäuschung des Retters gerecht wird als dem komplizierten zirkulären Kräftespiel, durch das die Beziehung ihren Zusammenhalt erfährt. Trotz aller systemischen Einsicht bleibt in der Praxis manchmal nur die Rettung des Opfers, zum Beispiel in ein Frauenhaus, um es der verheerenden Dynamik erst einmal zu entreißen. Solidarität mit dem Opfer und moralische Entrüstung gegenüber dem Täter sind dann gerechtfertigte emotionale Sofort-Maßnahmen, die nicht den Anspruch erheben können, die «ganze Wahrheit» schon erfasst zu haben.
3.3
Richtungen der Persönlichkeitsentwicklung
Es mag der Eindruck eines seelischen Gruselkabinetts entstehen, wenn die Stile der Kontaktgestaltung um der didaktischen Prägnanz willen so idealtypisch und in ihren extremen Ausformungen zur Darstellung gelangen. Zuweilen trifft man sie jedoch im wirklichen Leben so an, vorübergehend oder chronisch – und dann ist es gut, sich darauf einen Reim machen zu können. In der Regel werden wir der selbstlosen Strömung nicht «in Reinkultur» begegnen, sondern kombiniert mit anderen Strömungen, zum Beispiel mit der bestimmenden (s. Kap. 6) oder der sich beweisenden (s. Kap. 5). – Ich erinnere an dieser Stelle auch daran, dass wir nicht dabei sind, eine Typologie menschlicher Persönlichkeiten zu entwerfen, sondern eine Typologie menschlicher Kommunikationsstile, welche mit bestimmten Persönlich keitsanteilen als verbunden angenommen werden. So sind wir alle hin und wieder, mehr oder minder, von der selbst-losen Strömung erfasst. Was in extremer Übersteigerung pathologisch anmutet, hat in Maßen und unter bestimmten Umständen eine segensreiche Wirkung, verkörpert einen Grundbaustein der Humanität! Die positiven Möglichkeiten dieser Strömung liegen in dem Bewusstsein, dass mein Dasein nicht nur und nicht vorrangig einen Zweck in sich selbst hat, indem es zur Optimierung des eigenen Wohlbefindens aufruft, sondern sich auch und gerade in der Dienstbarkeit und im Einsatz für den Mitmenschen verwirklicht. Unter den psychologischen Altmeistern hat besonders Alfred Adler den «Lebenssinn» (1973) des seelisch gesunden Menschen mit der Entwicklung zum «Gemeinschaftsgefühl» und mit der Überwindung der ich-haften Strebungen verbunden gesehen. – Droht uns nicht gerade dieses noch vor einem Jahrhundert völlig selbstverständliche christliche Bewusstsein, ein dienstbares «Werkzeug Gottes» für die Mitmenschen zu sein,
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