Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
kann, und zwar in einer Weise, dass der andere das Gefühl erhält: «Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können!» Ist das aber nicht zu viel verlangt? Woher soll ich diese «liebevolle Gründlichkeit» nehmen, wenn es nicht um eine akademische Diskussion geht, sondern um existenzielle Fragen von unmittelbarer Betroffenheit; zum Beispiel, ob und wann man ungeborenes Leben abtreiben darf? Je nach eigenem Standpunkt wird die gegnerische Haltung als derart schlimm und menschenverachtend empfunden, dass sie statt liebevoller Gründlichkeit allen Hass und Schande verdient. So hört man dann, in der Hitze des Gefechtes, von der einen Seite: «Wenn es nach Ihnen ginge, dürfte jede Frau nach Herzenslust und auf Kosten der Krankenkasse ihr ungeborenes Kind einen Kopf kürzer machen, wenn es ihrer Selbstverwirklichung ein bisschen im Wege steht!» Eine solche Redeführung unterstellt dem Kontrahenten (oder der Kontrahentin) eine derart sorglose und niederträchtige Gesinnung, dass sie selbst zur Niederträchtigkeit gerät und dazu beiträgt, aus der Gegnerschaft eine Feindschaft zu machen. Aber noch einmal: Ist es nicht zu viel verlangt, den Anlass meiner Empörung mit liebevoller Gründlichkeit nachzuvollziehen? Offenbar ist es das, denn wie selten geschieht es, dass jemand etwa sagt: «Sie halten wie ich die vielen Abtreibungen für äußerst besorgniserregend. Jedoch sehen Sie die Verschärfung des Abtreibungsparagraphen als ein völlig ungeeignetes Mittel an, um ungeborenes Leben zu schützen – im Gegenteil sind Sie davon überzeugt, dass dadurch die ohnehin schlimme Notlage der Frau nur verschärft wird und sie in die Illegalität getrieben wird. – Hören Sie nun, warum ich trotzdem entschieden anderer Meinung bin als Sie …!»
Die Chance, dass das, was folgt, den anderen wirklich erreicht, ist nun sehr hoch – denn dieser fühlt sich in seinem Selbstverständnis angemessen wahrgenommen und kann jetzt zuhören und an sich herankommen lassen, statt seine Energie auf die Verarbeitung von Kränkungen und Richtigstellung der eigenen Position zu binden.
Wenn man Menschen in Auseinandersetzungen reden hört, dann scheint es, als ob sie an folgende «Theorie der Überzeugungskunst» glauben würden: Je mehr man den Standpunkt des Gegners in schlechtem Licht erscheinen lässt, als völlig irrsinnig oder bösartig, und je mehr man dem Gegner selbst Irrsinn und Bösartigkeit unterstellt, umso eher wird er motiviert sein, einen derart schlechten Standpunkt zu verlassen und sich dem eigenen anzuschließen. » Zwar glaube ich nicht, dass auch nur irgendjemand dieser Theorie wirklich anhängt – zu drastisch sind die empirischen Gegenbelege, tausendfach am eigenen Leibe erfahren. Und doch redet man so, als ob man an diese Theorie glauben würde. Des Rätsels Lösung? Vielleicht sind wir, erfasst von der aggressiv-entwertenden Strömung, gar nicht in erster Linie darauf aus, zu überzeugen , sondern vielmehr von dem Wunsch beseelt, den anderen für seinen falschen Standpunkt zu bestrafen . Vor jeder wichtigen Auseinandersetzung ist uns daher zur Selbstklärung aufgegeben: Was ist mein Ziel in diesem Gespräch, und deckt sich mein «offizielles» mit meinem «klammheimlichen» Ziel? Und wenn nicht, welches von beiden ist mir wichtiger angesichts der Tatsache, dass man nicht in ein und demselben Gespräch beides kann: überzeugen und bestrafen?
Dieser Gedanke verweist auf die Notwendigkeit der Selbsterforschung. Sie ist für Menschen, die ihre Kontakte bevorzugt durch den aggressiv-entwertenden Stil gestalten, wohl die wichtigste Richtung der Persönlichkeitsentwicklung.
Konfrontation und Selbsterforschung. Wer im Umgang mit seinen Mitmenschen in starkem Maße dazu neigt, sie aufs Korn zu nehmen», das heißt sie zu
diagnostizieren («So einer bist du!»),
anzuklagen («Du bist schuld!»),
analysieren («Und wenn du nicht mehr weiter weißt, wirst du unsachlich und versuchst abzulenken!»),
kritisieren («Du hast in den entscheidenden Momenten einfach kein Rückgrat!»),
interpretieren («Im Grunde wollen Sie sich nur drücken!»),
mit Ratschlägen zu versorgen («Sie sollten viel mehr aus sich herausgehen und sich selbst besser verkaufen!»),
der hat, als gemeinsames Merkmal all dieser Varianten, den Blick auf sein Gegenüber gerichtet. Dieser Scheinwerfer nach außen bedarf zum Ausgleich einer «Taschenlampe nach innen».
Die Kunst, sich hinter die eigenen Kulissen zu schauen, ist unter dem Einfluss der
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